Ex libris Latein-Textband

4 Anekdote Heiteres und Hintergründiges Das Wort Anekdote kommt aus dem Griechischen und bedeutet eigentlich eine (bislang) unveröffentlichte Ge- schichte (vgl. dazu den Abschnitt „Wissenswertes“ ganz unten). In der Literaturgeschichte findet sich der Begriff Anekdote zum ersten Mal in Zusammenhang mit dem griechischen Geschichtsschreiber Prokopios, der in einem – allerdings erst nach Prokopios’ Tod – als „Anék- dota“ bezeichneten Buch den oströmischen Kaiser Jus- tinian (527–565) einer vernichtenden Kritik unterzog. Dieses Werk enthält zahlreiche Klatschgeschichten über den Kaiser und sein Privatleben und unterscheidet sich vom heutigen Sprachgebrauch des Wortes Anekdote. Drei Merkmale für eine literarisch ausformulierte Anekdote sind wesentlich: die Charakterisierung der handelnden Person(en), die Kürze durch Reduktion der Geschichte auf das Wesentliche und eine abschließende Pointe. In der Alltagssprache nennt man die Schilderung einer ungewöhnlichen oder komischen Begebenheit ohne literarischen Anspruch Anekdote. Erasmus von Rotterdams „Apophthegmata“ Die folgenden anekdotenhaften Geschichten stammen von Erasmus von Rotterdam (1466 oder 1469–1536). Erasmus war Theologe und Philologe und als solcher an Literatur, Philosophie und Geschichte interessiert. Nach einer umfangreichen Reisetätigkeit (Frankreich, Britan- nien, Italien) lebte er hauptsächlich in Basel. Obwohl er sich kritisch über die Missstände der katholischen Kirche äußerte, blieb er ihr zeitlebens treu und versuch- te zwischen Papst und dem Reformator Martin Luther zu vermitteln. Erasmus gab das erste gedruckte griechi- sche Neue Testament heraus, das für Luthers Bibelüber- setzung grundlegend war. Erasmus verfasste auch einige witzige Werke, zu de- nen das sogenannte „Lob der Torheit“ und die Satire „Papst Julius an der Himmelstür“ gehören. In Letzterem lässt er den machtbewussten und geltungssüchtigen Renaissancepapst Julius II. (1503–1513) beim Versuch, in den Himmel zu kommen, abblitzen. Etwas ernster, je- doch mit stark anekdotischem Charakter ist sein Werk „Apophthegmata“ (griechisch „Aussprüche“), in dem Erasmus berühmte Persönlichkeiten (z.B. Herrscher, Phi- losophen) in kurzen Geschichten zu Wort kommen lässt. Die rund 2900 Aussprüche sollen als Anregung für die richtige Entscheidung in bestimmten Lebenssituatio- nen dienen. Wissenswertes Für alle sprachwissenschaftlich Interessierten: Das Wort Anekdote geht auf das griechische anékdotos zurück, das sich in die drei Bestandteile an- (entspricht der deutschen Vorsilbe un- bzw. der lateinischen in-), - ek- („heraus“, vgl. lat. ex-) und das Adjektiv - dotos („gege- ben“, verwandt mit lateinisch datus ) zerlegen lässt. Hans Holbein der Jüngere, Erasmus von Rotterdam, 1523; Kunstmuseum Basel Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=