Ex libris Latein-Textband

34 Politik und Rhetorik | Cicero und die Rhetorik Gaius Verres (115–43 v. Chr.) beutete über das damals übliche Maß hinaus ab 73 v. Chr. drei Jahre lang die Pro- vinz Sizilien systematisch als Proprätor (Statthalter) aus. Seine kriminellen Machenschaften beschränkten sich dabei nicht auf Amtsmissbrauch, Erpressung, Unter- schlagung und Drangsalierung der Provinzbewohner, Verres ging vielmehr auch als größter Kunsträuber der Antike in die Geschichte ein. Auf ganz Sizilien blieb kein Kunstwerk vor ihm sicher. Im Jahre 70 v. Chr. klagte M. Tullius Cicero im Auftrag der Sizilianer C. Verres wegen Ausbeutung der Provinz („De repetundis”) an. Dabei legte sich der „homo novus” mit dem alteingesessenen Adel Roms an, der alles dar- ansetzte, die Verurteilung eines der Ihren zu verhindern. Verres’ Verteidigung übernahm der Staranwalt Q. Hor- tensius Hortalus, dessen Taktik es war, den Prozess hin- auszuzögern. Cicero musste sich zunächst in einem Vorprozess das Recht erstreiten, die Interessen der Sizi- lianer vertreten zu dürfen. Der eigentliche Prozess sollte dann in zwei Verhandlungen ablaufen. Cicero verzichte- te jedoch bei der Erstverhandlung („actio prima“) weit- gehend auf sein Plädoyer und ließ sogleich Unmengen von Zeugen auftreten, die er nach Rom hatte bringen lassen. Dieser Beweislast hatte die Verteidigung nichts entgegenzusetzen. Verres ging freiwillig ins Exil nach Massilia (= Marseille), nicht ohne einen Großteil seines Vermögens und der geraubten Kunstschätze mitzuneh- men. Der Prozesserfolg machte Cicero zum führenden Anwalt Roms und beförderte auch seine weitere politi- sche Karriere. Da es aber zur Zweitverhandlung („actio secunda“) nicht mehr gekommen war, veröffentlichte er sein nicht gehaltenes Plädoyer in fünf Büchern. Darin bezeichnet er u. a. die Rechtsprechung des Statthalters mit einem Wortspiel als „ius Verrinum“ (doppeldeutig: „Recht des Verres“ und „Saubrühe“). Berühmt ist aber vor allem das vierte Buch („De signis“ = von den Statu- en), das den von Verres geraubten Kunstschätzen ge- widmet ist (z. B. die Dianastatue von Segesta). Erwähnenswert bleibt, dass Verres im selben Jahr wie Cicero (43 v. Chr.) im Zuge der Proskriptionen ums Leben kam, weil er seine Reichtümer nicht aushändigen wollte. Der Raub der Diana von Segesta Segesta in Westsizilien war berühmt für seine Dianastatue. Während des 1. Pu- nischen Krieges war diese als Beute nach Karthago gekommen. Der Zerstörer Karthagos, P. Cornelius Scipio Africanus, hatte sie im Jahr 146 v. Chr. den Seges- tanern zurückgegeben: Colebatur a civibus, ab omnibus advenis 1 visebatur; cum quaestor essem, nihil mihi ab illis est demonstratum prius. Erat admodum 2 amplum et excelsum signum cum stola 3 ; verum tamen inerat in 4 illa magnitudine aetas atque habitus virginalis; sagittae pendebant ab umero 5 , sinistra manu retinebat arcum, dextra ardentem facem praeferebat. Hanc cum iste a sacrorum 6 omnium et religionum 7 hostis praedoque 8 vidisset, quasi 9 illa ipsa face percussus esset, ita flagrare 10 cupiditate atque amentia coepit; imperat magistratibus, ut eam demoliantur 11 et sibi dent; nihil sibi gratius ostendit futurum. Illi vero dicere 12 sibi id nefas esse seseque cum summa religione tum summo metu legum et iudiciorum teneri. Iste tum petere 12 ab illis, tum minari 12 , tum spem, tum metum ostendere 12 . Cicero, In Verrem 2,4,74b–75a I 1 advena, -ae n. : Ankömmling 2 admodum ( Adv .): recht 3 stola, -ae f .: langes Kleid 4 in (+ Abl .): hier : trotz 5 umerus, -i m. : Schulter 6 sacra, -orum n. Pl. : Heiligtum 7 religio, -onis f. : hier : Kult 8 praedo, -onis m .: Räuber 9 quasi (+ Konj. ): als ob 10 flagrare 1 : brennen 11 demoliri 4 : abmontieren 12 historischer Infinitiv = 3. Person Sg. od. Pl. Perfekt Indikativ a gemeint ist Gaius Verres 2 4 6 8 10 12 Der Prozess gegen Verres Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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