Ex libris Latein-Textband

31 Cicero und die Rhetorik Zivilisation hängt seit jeher von der Fähigkeit der Men- schen ab, miteinander zu kommunizieren. Wer sich da- rin auszeichnen kann, ist meist auch gesellschaftlich erfolgreich. Die Griechen entwickelten aus ihren diesbe- züglichen Erfahrungen ein theoretisches System, das sich auch weitervermitteln ließ. Die ältesten namentlich bekannten Redelehrer hießen Korax und Teisias (5. Jh. v. Chr.). Sie stammten aus Sizilien und sollen die Rheto- rik als „Erzeugerin von Überredung bzw. Überzeugung“ (lat.: „ars persuadendi“) definiert haben. Das eigentliche Zentrum des Rhetorikunterrichts wurde Athen, wo die attische Demokratie den nötigen Nährboden dafür zur Verfügung stellte. Attische Bürger mussten ihre Sache selbst vor Gericht vertreten oder ihre Anliegen in der Volksversammlung durchsetzen. Dabei kamen ihnen die Sophisten (= Weisheitslehrer) zu Hilfe, die ihnen gegen Bezahlung den nötigen Unter- richt erteilten. Protagoras etwa versprach dabei „die schwächere Sache zur stärkeren zu machen“. Gorgias erkannte die rhetorische Wirkung von Antithese, Paral- lelismus und Endreim und wurde so zum Begründer rhetorischer Figuren. Isokrates wiederum verband die Redekunst mit einer umfassenden Allgemeinbildung. Während Platon gegenüber der Rhetorik höchst skeptisch war, widmete sich sein Schüler Aristoteles eingehend der Redetheorie. Er sah in der Rhetorik „das Vermögen, bei jedem Gegenstand das Überzeugende zu erkennen“ und unterschied drei Mittel der Überredung, nämlich den Charakter des Redners („ethos“), die Erre- gung von Affekten („pathos“) sowie wirkliche und scheinbare Beweise. Der bedeutendste Redner Athens war Demosthenes (4. Jh. v. Chr.). Berühmt wurden seine Reden gegen Phil- ipp von Makedonien (den Vater Alexanders des Großen), mit denen er seine Landsleute zum bewaffneten Kampf für die eigene Freiheit aufrief. Diese ließen sich über- zeugen, doch den Sieg trug Philipp davon. Die politischen Verhältnisse änderten sich danach grundlegend. Wichtige Entscheidungen wurden In hel- lenistischer Zeit nur mehr von Königen und ihren Bera- tern getroffen. Die Rhetorik selbst aber lebte im Schul- betrieb weiter. Theophrast, ein Schüler des Aristoteles, verfasste etwa eine Schrift „Über den Stil“. Ab dem 2. Jh. v. Chr. fand die griechische Rhetorik dann ein breites Betätigungsfeld in der römischen Republik. Man wollte für Senatsdebatten, Reden vor dem Volk oder Gerichtsprozesse gerüstet sein. Selbst Gegner grie- chischer Lebensart setzten sich mit der Redekunst aus- einander. So meinte etwa Cato der Ältere: „Orator est vir bonus dicendi peritus“ (Ein Redner ist ein tüchtiger Mann, der sich beim Reden auskennt). Sein moralischer Anspruch an den Redner deckte sich dabei bis zu einem gewissen Grad mit der stoischen Definition von Rhetorik als „Wissenschaft, (moralisch) gut zu reden“. Viele lernten in Rom anhand der Praxis, indem sie sich anerkannten Rednern anschlossen. Man nahm aber auch Unterricht bei Rhetoren (= Rhetoriklehrern). So stu- dierte etwa Caesar auf der Insel Rhodos bei Apollonios Molon. Denselben Lehrer nahm sich auch Cicero (106– 43 v. Chr.), der seinerseits wichtige Impulse für die latei- nische Rhetorik beisteuerte. Er war nicht nur selbst der wohl größte Redner Roms, der den eigenen politischen Aufstieg ganz seinem Redetalent verdankte, sondern verfasste auch einige redetheoretische Schriften (z. B. den Dialog 1 „De oratore“), die eine eifrige Leserschaft fanden. Sein Ideal war dabei der umfassend gebildete Redner. Mit dem Untergang der Republik und der Errichtung der Monarchie war auch in Rom die Zeit vorbei, politi- sche Entscheidungen in der Öffentlichkeit zu debattie- ren. Die Rhetorik fand wieder dauerhaft ihren Platz im Schulbetrieb und war fester Bestandteil in der Ausbil- dung der Oberschicht. Man hielt Übungsreden zu einem Stoff, der demMythos oder der Geschichte entnommen war. Ziel war es, entweder einen längst entschiedenen Sachverhalt nochmals zu entscheiden („suasoriae“) oder in einem imaginären Streit („controversiae“) den Sieg davonzutragen. Als „Konzertredner“ („declamator“) konnte man sich dabei auch durchaus einen Namen machen (vgl. Seneca). In der zweiten Hälfte des 1. Jh. wurde Quintilian von Kaiser Vespasian zum ersten staat- lich besoldeten Rhetorikprofessor Roms gemacht. Von ihm stammt das wichtige Lehrwerk „Institutio oratoria“. Etwas später verfasste der Historiker Tacitus (um 100 n. Chr.) seinen „Dialogus de oratoribus“. Noch Augustinus machte im 4. Jh. als Rhetoriklehrer Karriere, ehe er sich zum Christentum bekehrte. 1 Die Dialogform, also das aufgezeichnete Gespräch zwischen zwei oder mehr Sprechern, wurde seit Platon gerne verwendet, um philosophische, aber auch rhetorische Themen abzuhandeln. Kurze Geschichte der Rhetorik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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