Ex libris Latein-Textband

23 Satire L6 Die Satire ist eine ureigene römische Gedichtform. So erklärt der Redelehrer Quintilian: „Satura quidem tota nos- tra est“ (Institutio oratoria 10,1). Die Bezeichnung geht auf den römischen Dichter Ennius (3./2. Jh. v. Chr.) zurück, der eine formlose Sammlung verschiedener Gedichte „satura“ (= Gemüseallerlei) nannte. Im 2. Jh. v. Chr. verlieh Lucilius der literarischen Gattung die typische Form. Seine Satiren waren im Hexameter (S. 191) verfasst und enthielten mitunter harsche Kritik an gesellschaftlichen Zuständen. Weit weniger bissig gab sich Horaz (65–8 v. Chr.) in seinen Verssatiren, die er selbst „sermones“ (Gespräche) nannte. Er wollte „lachend die Wahrheit sagen“ (Sermones 1,24: „ridentem dicere verum“) und verband dabei sprachliche Eleganz mit allgemeiner Lebens- weisheit. Der bedeutendste Satiriker der Kaiserzeit ist Juvenal (2. Jh. n. Chr.), der in seinen Gedichten in schillernden Farben den sittlichen Verfall der römischen Gesellschaft zeichnete. So stammt etwa der Ausdruck „panem et circenses“ („Brot und Spiele“) aus einer seiner Satiren (10,81). Horaz Quintus Horatius Flaccus (65–8 v. Chr.) stammte aus Venusia (heute Venosa) in Süditalien. Sein Vater war ein frei- gelassener Sklave, der all seine finanziellen Mittel in die Ausbildung seines Sohnes investierte. Horaz durfte in Rom studieren und später sogar in Athen. Dort kämpfte er auf der Seite der Cäsarmörder für die Sache der Repu- blik und wurde mit ihnen in der Schlacht von Philippi (42 v. Chr.) von Mark Anton und Octavian, dem späteren Augustus, besiegt. Horaz floh und verlor sein gesamtes Erbe. So musste er als Amtsschreiber arbeiten und begann nebenbei zu dichten. Durch den Dichter Vergil wurde der Kunstförderer Maecenas auf Horaz aufmerk- sam. Er nahm ihn in seinen Dichterkreis auf, schenkte ihm ein Landgut in den Sabinerbergen (Sabinum) und ermöglichte ihm, sich frei von finanziellen Sorgen der Dichtkunst zu widmen. Über Maecenas wurde Horaz auch mit Octavian per- sönlich bekannt. Auf ihn, den ehemaligen Gegner, setzte er nun die Hoffnung, dass der Frieden wiederhergestellt werde. Octavian, der seit 27 v. Chr. den Titel Augustus führte, beauftragte den Dichter, für die Säkularfeier des Jahres 17 v.Chr. das offizielle Festlied („Carmen saeculare“) zu komponieren. Horaz starb schließ- lich 8 v. Chr. wenige Monate nach dem Tode seines Gönners Maecenas. Horaz nahm sich als Dichter die klassische griechische Lyrik (7.–5. Jh. v. Chr.) zum Vorbild: Er selbst sah sich als römischer Alkaios. Trink- und Liebeslieder finden sich in seinen Oden („Carmina“) ebenso wie Hymnen und Gedichte philosophi- schen Inhalts. Daneben veröffentlichte Horaz zwei Bücher „Sermones“ sowie Versepisteln, von denen der letzte Brief auch als „Ars poetica“ bekannt ist. Horaz (?), Relief, Ende 1. Jh. v.Chr., Museum of Fine Arts, Boston Der Quälgeist Während eines Spaziergangs auf der Via Sacra begegnet Horaz einem entfernt Bekannten: Ibam forte via a sacra a , sicut meus est mos, nescioquid 1 meditans 2 nugarum 3 , totus in illis. Accurrit quidam notus mihi nomine tantum arreptāque 4 manu „Quid 5 agis 5 , dulcissime rerum 6 ?“ „Suaviter 7 , ut nunc est“, inquam, „et cupio omnia, quae vis.“ Cum adsectaretur 8 , „Num quid vis?“ occupo 9 . At ille „Noris 10 nos“, inquit, „docti sumus.“ (…) Horaz, Sermones 1,9,1–7 (Versmaß: Hexameter; vgl. S. 191) M Übungsteil S. 6 L6 1 nescioquid: irgendetwas 2 meditari 1 : denken 3 nugae, -arum f.Pl. : unnütze Dinge, Schnickschnack 4 arrípere 3 M, -ui, -reptum: packen 5 quid agis: Wie geht’s? 6 rerum: in aller Welt 7 suaviter = bene 8 adsectari 1 : unablässig folgen 9 occupare 1 : zuerst anreden 10 noris = noveris ( Potentialis ) a via (-ae f .) sacra (-ae): Via Sacra ( alte Prozessionsstraße über das Forum ) I 2 4 6 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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