Ex libris Latein-Textband

182 Fachsprachen und Fachtexte | Das Kirchenlatein Latein und die modernen Sprachen Latein kann getrost als die „Mutter“ vieler europäischer Sprachen bezeichnet werden. Die sogenannten romanischen Sprachen entwickelten sich im Westteil des Imperium Romanum regional unter- schiedlich aus dem Vulgärlatein („sermo vulgaris“). Die nebenstehende Grafik verdeutlicht die verschie- denen Entwicklungsstränge. In Italien datieren die ältesten Sprachzeugnisse des „italiano volgare“ aus dem 8. Jh., wobei es sich vorwiegend um Gebrauchstexte rechtlicher bzw. religiöser Art handelt. Erst um 1300 zeigte Dante Alighieri mit seiner in toskanischer Mundart verfassten „Divina Commedia“ (vgl. S.160), dass die romanische Sprache literaturfähig war. Das Toskani- sche wurde so wegweisend für die italienische Hochsprache. Gleichzeitig schrieben und dichteten freilich Dante und die anderen Frühhumanisten (wie Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio) auch weiterhin in Latein. Im Frankenreich Karls des Großen (9. Jh.) wurde das Lateinische allgemein nicht mehr verstanden. Darauf reagierte man seitens der Kirche auf dem Konzil von Tours (813) und beschloss, fortan die Predigten zur besse- ren Verständlichkeit „in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam (= althochdeutsch)“ zu übersetzen. Unter Karls Enkeln entbrannte ein heftiger Thronstreit. Als sich 842 der westfränkische König Karl und der ostfränki- sche König Ludwig gegen ihren Bruder Kaiser Lothar verbündeten, leisteten sie einander die sogenannten Straßburger Eide, ein jeder in der Sprache der Soldaten des jeweils anderen, damit ihr Inhalt verstanden wurde. So sprach Ludwig der Deutsche die Eidesformel in romanischer Volkssprache. Es ist dies das älteste Sprachdoku- ment des Altfranzösischen. In Frankreich selbst entwickelte sich die Volkssprache freilich nicht einheitlich. Dante unterschied hier in seiner Schrift „De vulgari eloquentia“ vor allem zwei Richtungen, das Okzitanische (= Provenzalische, „langue d’oc“) 1 und das Franzische (= Nordfranzösische, „langue d’oïl“ oder „langue d’oui“). Das Okzitanische bewahrte den lateinischen Wortbestand viel stärker als das Franzische, die Sprache der späteren Ile-de-France. Letzteres setzte sich im Laufe der Zeit allerdings durch, nicht zuletzt durch die Abhängigkeit des Adels vom Hof in Paris. Seit dem 17. Jh. bemühte sich die Académie Française um die Fixierung und Säuberung des französischen Sprachbe- standes: „Le mot français doit rappeler autant que possible le mot latin dont il dérive.“ Aber nicht nur die romanischen Sprachen sind stark vom Lateinischen geprägt. Auch das Englische ist sehr davon beeinflusst. Das hat einerseits mit Britanniens römischer Vergangenheit und mit der Rechristianisierung durch die römische Kirche im Frühmittelalter zu tun, andererseits liegt der Umstand in der Eroberung Englands durch die französischsprachigen Normannen unter Wilhelm dem Eroberer (1066) begründet. So sind abhängig vom Sprachniveau mindestens 50% des englischen Wortschatzes direkt oder indirekt aus dem Lateinischen ableitbar. Unabhängig von den sprachlichen Entwicklungen der modernen Sprachen blieb Latein über ein Jahrtausend die Sprache der Gebildeten und der Wissenschaften, weil die römische Kirche den in der Antike geschaffenen europäischen Bildungskanon bewahrte und Latein weiterhin als Kultursprache auch außerhalb der Liturgie beibehielt. 1 Die Bezeichnungen gehen auf die im jeweiligen Sprachraum üblichen Bejahungspartikel zurück, nämlich „hoc“ für „langue d’oc“ und eine verschliffene Form von „hoc illu(m)“ für die „langue d’oïl“. Reproduktion, Transfer und Reflexion • Einige Beispiele für den lateinischen Ursprung romanischer Wörter findest du im Übungsteil (S. 39). Löse die dortige Aufgabe und versuche dabei sprachliche Gesetzmäßigkeiten festzustellen (T, X) . Latein und die romanischen Sprachen LATEIN WESTROMANIA OSTROMANIA Portugiesisch Italienisch Französisch Spanisch (Kastilisch) Galizisch Provenzalisch (Okzitanisch) Rätoromanisch Sardisch ITALO- ROMANISCH GALLO- ROMANISCH BALKAN- ROMANISCH IBERO- ROMANISCH Rumänisch Vegliotisch (Dalmatinisch) Katalanisch Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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