Ex libris Latein-Textband

178 Fachsprachen und Fachtexte | Weltbilder Das Kirchenlatein „Die Christen unterschieden sich nicht durch Land, Sprache oder Sitten von den übrigen Menschen.“ Mit diesem Satz wollte ein anonymer Autor des 2. Jh. (aus dem sogenannten Diognet-Brief) darauf hinweisen, dass die Chris- ten keineswegs eine „Parallelgesellschaft“ zur römischen Gesellschaft bildeten. Allerdings entwickelte sich schon früh eine Art christlicher Sondersprache, die mehrere Charakteristika aufweist. 1. Die Sprache der Bibel: Dieses Buch ist bereits im Original in mehreren Sprachen verfasst (AT: Hebräisch, teil- weise Aramäisch; NT: Griechisch) und wurde ab dem 2. Jh. n. Chr. in mehreren Anläufen ins Lateinische übersetzt. Die ersten lateinischen Übersetzungen weisen einerseits viele Ungenauigkeiten, andererseits eine stark am Wortlaut und an der Wortstellung des als Gotteswort angesehenen Urtextes angelehnte Sprache auf (vergleiche dazu auch die Übersetzung von „Pater noster“ im Deutschen: „Vater unser“ ; hier wurde die Wortstellung auch ins Deutsche mit übersetzt). 2. Die Entstehung einer eigenen Terminologie (Fachsprache), die Hand in Hand mit der Entstehung der christ- lichen Theologie einhergeht: So etwa bedeutet das Wort „sacramentum“ bei den Römern „Fahneneid“, d. h. ein (heiliger, sacer ) Eid, den die Soldaten bei ihrer Angelobung schwören mussten. Der Begriff wurde im christlichen Latein als Synonym für „(heiliges, religiöses) Geheimnis“ verwendet – bald wurde dieses Wort als „Sakrament“ zu einem Fachausdruck für eine symbolische Handlung, die das geheimnisvolle Wirken Gottes für den Gläubigen zum Ausdruck bringen soll (Taufe, Eucharistie, …). 3. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich eine eigene Sprache der Liturgie. Dieser griechische Begriff bezeichnete im alten Griechenland einen „Dienst am Volk“ oder einfach ein „Wirken für die Öffentlichkeit“. In der Bibel wird damit der Dienst des Priesters am Volk (der Priester als Vermittler zwischen Gott und den Menschen) und später ganz allgemein der Gottesdienst bezeichnet. Die Sprache der frühen Kirche war rund 300 Jahre lang Griechisch, die allgemeine Verkehrssprache der antiken Welt (die sogenannte „ koiné “, d. h. die „Allgemeine“). In der Spätantike schwand die Kenntnis des Griechischen im Westteil des Römischen Reiches, sodass Papst Damasus I. (366–384) Latein zur Liturgiesprache der römischen Kirche machte. Im 13. Jh. fand das römische Messbuch nach und nach Verbreitung und ersetzte regionale Formen der Liturgie. Im Jahre 1570 wurde nach dem Konzil von Trient das „Missale Romanum“ das allgemein verbindli- che Messbuch der römisch-katholischen Kirche. Die lateinischen Gebete, die jeweils nach ihrem Anfang benannt sind („Kyrie“, „Gloria“, „Credo“, „Sanctus“ „Benedictus“ und „Agnus Dei“), wurden seit dem Mittelalter vielfach vertont und gehören damit – unabhängig von ihrer spirituellen Bedeutung – zum Weltkulturerbe der Mensch- heit. 4. Schließlich ist Latein auch die Fachsprache der Theologie: Selbst nach der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils, die das Latein im Gottesdienst weitgehend durch die Landessprache ersetzte, bleibt Latein weiterhin (neben Italienisch) eine der offiziellen Amts- sprachen der katholischen Kirche. Praktisch alle offiziellen Dokumente der Kirche werden auch auf Lateinisch publiziert, mit der Folge, dass moderne Begriffe (etwa aus der Technik) im Lateinischen neu gebildet werden und so zur Verlebendigung des Lateinischen beitragen. Lateini- sche Texte auch der jüngsten Zeit finden sich auf www.vatican.va . Titelblatt eines Missale Romanum von Pietro da Cortona mit der heiligen Dreifaltigkeit und dem Erzengel Michael, der ein Ungeheuer vertreibt, um 1657–1667 Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=