Ex libris Latein-Textband

166 Fachsprachen und Fachtexte | Rechtstexte Zwölftafelgesetz Die folgenden Sätze stellen Zitate aus dem Zwölftafelgesetz dar: 1. Si in ius 1 vocat, ito a . Ni 2 it, antestamino a3 . Igitur em 4 capito a5 . 2. Si morbus aevitas 6 ve vitium escit 7 , iumentum dato a . Si nolet 8 , arceram ne sternito a9 . 3. Si pater filium ter venum 10 duit 10 , filius a patre liber esto a . 4. Si membrum rupsit 11 , ni 2 cum eo pacit, talio esto a . 5. Si nox furtum faxsit 11 , si em 4 occisit, iure caesus esto a . 6. Si telum manu 12 fugit 12 magis quam iecit, aries subicitur 13 . Lex duodecim tabularum 1 ius, iuris n. : hier : Gericht 2 ni = nisi 3 antestari: einen Zeugen herbeirufen 4 em = eum 5 cápere 3 M: hier: ergreifen 6 aevitas = aetas 7 escit = est 8 Subjekt : der Beklagte 9 stérnere 3 : hier: bereitstellen; Subjekt : der Kläger 10 dare 1 venum: verkaufen; duit = dedit 11 rupsit = rupit; faxsit = fecit 12 fúgere 3 M manu: der Hand auskommen ( unbeabsichtigt ) 13 subícere 3 M: zur Verfügung stellen 2 4 6 Das Zwölftafelgesetz Das Zwölftafelgesetz, das auf Bronzetafeln geschrieben war, aber nur bruchstückhaft in Form von Zitaten erhalten ist, gehört zu den ältesten lateinischen Texten überhaupt. Es zeichnet sich durch sprachliche Knappheit und altertümliche Formulierungen (sog. Archaismen) aus. So etwa fehlt in Satz 1 das Subjekt, da das Gesetz möglichst allgemein gehalten sein soll: Sinngemäß ist „einer“ und „der andere“ zu ergänzen. – Ebenfalls typisch sind die Formen des sogenannten Imperativs II: ito, antestamino, capito, dato, sternito usw. Sie sind mit „er soll …“ zu übersetzen. Satz 1: Hier geht es darum, dass jeder Beklagte auch wirklich vor Gericht erscheinen muss. Allerdings muss der Kläger dafür sorgen, dass der Beklagte kommt (es gab damals keine Vorladung „von Amts wegen“). Der Zeuge war im Fall von Gewaltanwendung gegen einen Beklagten, der nicht vor Gericht erscheinen wollte, notwendig. Auch darin spiegelt sich das Bedürfnis nach Rechtssicherheit wider. Satz 2: Im Fall von Krankheit oder Altersschwäche des Beklagten ist ihm für die Vorladung ein Transportmittel zur Verfügung zu stellen – wiederum ein Zugeständnis an die schwächere Partei. Allerdings muss es kein luxuriöses Gefährt sein. Satz 3: Der Vater hatte das ius vitae necisque über seine Kinder, folglich konnte er sie auch verkaufen. Kinder wurden aber nicht nur in der Frühzeit, sondern auch später in wirtschaftlichen Notzeiten verkauft. Der dreifache Verkauf, der erst beim dritten Mal gültig wurde, wurde später als symbolischer Akt für die vorzeitige Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Hausgewalt wichtig – der Sohn war damit eigenberechtigt (sui iuris) und unterstand nicht mehr der patria potestas . Satz 4: Hier geht es um eine angemessene Bestrafung für körperliche Verletzungen. Ein „zerbrochenes Körper- glied“ konnte schwerwiegende, ja irreparable Schäden zur Folge haben. Konnte man sich mit dem Geschädigten nicht einigen, wurde festgelegt, dass der Täter die gleiche Strafe erleiden soll. – Dieses sogenannte Talionsprin- zip (= Gleiches wird mit Gleichem vergolten) findet sich auch im Codex Hammurabi (Nr. 200: „Wenn ein Mann die Zähne eines ihm gleich Gestellten ausschlägt, sollen ihm seine Zähne ausgeschlagen werden“), im Alten Testament (z. B. Leviticus 24,20) oder im Koran (Sure 2,178). Satz 5: Der Satz bringt zum Ausdruck, dass ein Diebstahl in der Nacht für den Bestohlenen noch mehr Gefahren birgt, sodass man im Fall der Notwehr auch mit der Tötung des Einbrechers rechnen muss. Satz 6: Hier geht es um ein fahrlässiges Handeln: Wer die Waffe nicht absichtlich wirft (und dabei jemanden verletzt oder tötet), muss einen Widder „zur Verfügung stellen“, vielleicht als Opfertier. a ito, antestamino usw.: Formen des Imperativs II (Endung -to ): er soll gehen/ einen Zeugen herbeirufen usw. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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