Ex libris Latein-Textband

161 Vergils Aeneis | Mythos und Rezeption Bukolik L6 Die Gattung Bukolik („Hirtendichtung“, von griech. boukólos = Rinderhirte) geht auf den hellenistischen Dichter Theokrit von Syrakus (3. Jh. v. Chr.) zurück, der in zehn seiner „Idylle“ (= „Bildchen“) die Landsehnsucht des Großstädters durchaus ironisch aufs Korn nimmt. In diesen in Hexameter verfassten Gedichten treten Hirten als Akteure auf, die Dialoge führen oder um die Wette singen. Themen sind dabei Liebe, Trauer, Landleben, aber auch Gedanken über Dichtung. Ab etwa 40 v. Chr. verfasste der römische Dichter Vergil (vgl. S. 153) ebenfalls zehn Hirtengedichte, die man „Eklogen“ (latein. ecloga = auserlesenes Gedicht) bzw. „Bucolica“ nennt. Die heile Hirtenwelt gerät bei ihm mitunter auch in Berührung mit der römischen Politik. Berühmt wurde vor allem die vierte Ekloge, die von der Geburt eines Kindes erzählt, das ein neues goldenes Zeitalter einleiten wird. Kaiser Konstantin deutete im Jahr 325 auf dem Konzil von Nizäa dieses Kind als Christus. Auch nach Vergil gab es römische Bukoliker. So pries etwa Calpurnius Siculus mit seinen Eklogen Kaiser Nero. In christlicher Zeit bekam die Bukolik mit Christus als „pastor bonus“ eine neue Dimension. Lateinische Hirtendich- tung findet sich über die Spätantike hinaus vom Mittelalter (z. B. am Hofe Karls des Großen) bis in die Renais- sance (z. B. bei Francesco Petrarca). Ab der frühen Neuzeit wurde dann das „Schäferspiel“ („Pastorale“) beliebt, das Liebesverwicklungen im Hirtenmilieu zu Inhalt hatte. Mitunter inszenierte sich auch die vornehme Gesell- schaft als einfaches Landvolk in idyllischem Ambiente (vgl. noch im 18. Jh. Königin Marie Antoinette in Ver- sailles). Landvertreibung In der ersten Ekloge hält die finstere Realität römischer Bürgerkriegswirren Einzug in die bukolische Idylle. Hintergrund sind die Landvertreibungen, die in Italien stattfanden, nachdem Octavian und Marcus Antonius die Caesarmörder in der Schlacht bei Philippi (42 v. Chr.) entscheidend geschlagen hatten. Vergil lässt in seinem Gedicht den landvertriebenen Hirten Meliboeus auf Tityrus treffen, der gerade im Schatten musiziert: Meliboeus: Tityre a , tu patulae 1 recubans 2 sub tegmine fagi 3 silvestrem tenui Musam 4 meditaris 5 avena 6 ; nos patriae finis et dulcia linquimus arva 7 . Nos patriam fugimus; tu, Tityre a , lentus 8 in umbra formosam resonare 9 doces Amaryllida b silvas. Tityrus: O Meliboee c , deus nobis haec otia fecit. Namque erit ille mihi semper deus, illius aram 10 saepe tener nostris ab ovilibus 11 imbuet 12 agnus. Ille meas errare boves, ut cernis, et ipsum ludere, quae vellem, calamo 13 permisit agresti. Meliboeus erkundigt sich, wieso Tityrus auf seinem Land bleiben darf. Dieser ent- gegnet mit einer etwas umständlichen Erzählung, wie er, ein Sklave vorgerückten Alters, sich nach Rom aufgemacht habe, eine Stadt, die alle anderen Städte überra- ge wie hohe Zypressen über niedriges Buschwerk. Dort wollte er seine Freilassung erwirken. Unabhängig davon begegnete er auch einem hilfreichen Gott, der wohl mit Octavian zu identifizieren ist. Genau in der Mitte des Gedichtes heißt es: Tityrus: Hic illum vidi iuvenem, Meliboee c , quotannis 14 bis senos 15 cui nostra dies altaria 16 fumant. Hic mihi responsum primus dedit ille petenti: „Pascite 17 ut ante boves, pueri, summittite 18 tauros.” Vergil, Ekloge 1,1–10 und 42–45 (Versmaß: Hexameter) L6 I 2 4 1 patulus, -a, -um: breit 2 recubare 1 : liegen 3 fagus, -i f .: Buche 4 Musa, -ae f .: hier : Lied 5 meditari 1 : (ein Lied) spielen 6 avena, -ae f .: Hirtenflöte 7 arvum, -i n .: Acker 8 lentus, -a, -um: träge 9 resonare 1 : widerhallen lassen 10 ara, -ae f .: Altar 11 ovile, ovilis n .: Schafstall 12 imbúere 3 : (mit Blut) benetzen 13 calamus, -i m .: Rohrflöte 6 8 10 12 14 14 quotannis ( Adv .): jährlich 15 seni, -ae, -a: je sechs 16 altaria, -ium n . Pl .: Altar 17 páscere 3 : weiden lassen 18 summíttere 3 : züchten a Tityrus, -i m .: Tityrus ( ein Rinderhirte ) b Amaryllis, Amaryllidis f . ( Akk . Amaryllida): Amaryllis ( ein Hirtenmädchen ) c Meliboeus, -i m .: Meliboeus ( ein Ziegenhirte ) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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