Ex libris Latein-Textband
16 Epigramm Ein Epigramm (griech.: „epígramma“), zu Deutsch „Aufschrift“, diente ursprünglich dazu, in knapper Form einen Gegenstand zu erläutern. Oft war dies ein Grabstein oder eine Weihegabe an die Götter. Schon früh verwendete man dazu die Gedichtform. Besonders beliebt war dabei das elegische Distichon (vgl. S. 191). Berühmt ist etwa das Epigramm auf jene 300 Spartaner, die bei den Thermopylen im Kampf gegen eine persische Übermacht gefallen waren. Es wird dem Dichter Simonides zugeschrieben und lautet in der Übersetzung Schillers so 1 : Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl. Nach und nach entstand eine eigene literarische Gattung, die in hellenistischer Zeit (ab dem späten 4. Jh. v. Chr.) eine Blüte erlebte. Es entstanden ganze Gedichtsammlungen, deren Gedichte nur mehr zum Teil vorgaben, Aufschriften zu sein. Viele Gedichte waren auch erotischen Inhalts oder anekdotenhaft. Erhalten hat sich die sogenannte Anthologia Graeca, eine Sammlung griechischer Epigramme, die in der vorliegenden Form aller- dings erst in byzantinischer Zeit zusammengestellt wurde. Durch die Griechen lernten auch die Römer das literarische Epigramm kennen. Dabei fand besonders ihre Vorliebe für Spott, Hohn und Verunglimpfung in dieser Gattung ihren Niederschlag. Der erste Dichter, von dem wir in größerem Umfang lateinische Epigramme besitzen, ist Gaius Valerius Catullus (84–54 v. Chr.). Seine Art zu dichten galt im Rom der ausgehenden Republik als neu und modern (vgl. S. 75). Catulls Spottgedichte Catull belustigt sich über das Aussehen einer Provinzschönheit: Sálve, néc minimó puélla náso néc belló pede néc nigrís océllis 1 néc longís digitís nec óre sícco néc sané 2 nimis élegánte 2 língua, décoctóris a amíca Fórmiáni a . Tén 3 província b nárrat ésse béllam? Técum Lésbia c nóstra cómparátur? Ó saecl um ínsapiéns 4 et ínfacétum 4 ! Catull, Carmen 43 (Vermaß: Hendekasyllabus; vgl. S. 192) I 2 4 6 8 1 ocellus, -i m .: Äuglein 2 sane nimis elegans: freilich allzu elegant 3 ten …? = te-ne …? 4 insapiens et infacetum: ohne Geschmack und Witz a decoctor (-oris m .) Formia- nus (-i): Verschwender aus Formiae (= Caesars Günstling Mamurra, der aus diesem Städtchen in Südlatium stammte ) b provincia: gemeint ist die Gallia Cisalpina, Catulls Heimatregion c Lesbia, -ae f .: Lesbia ( Pseudonym der Geliebten Catulls ) Catull setzt scheinbar zu einem Lobgedicht auf Cicero an, der damals gerade genötigt wurde, alle möglichen zwielichtigen Parteigänger Caesars vor Gericht zu verteidigen: Disertissime 1 Romuli a nepotum, quot sunt quotque fuere 2 , Marce b Tulli b , quotque post aliis erunt in annis, gratias tibi maximas Catullus agit pessimus omnium poëta, tanto 3 pessimus omnium poëta, quanto 3 tu optimus omnium patronus. Catull, Carmen 49 (Vermaß: Hendekasyllabus) II 2 4 6 1 disertus, -a, -um: beredt 2 fuére = fuerunt 3 tanto …quanto: so sehr … wie (sehr) a Romulus, -i m .: Romulus ( mythischer Gründer Roms ) b Marcus Tullius: M. Tullius Cicero ( röm. Politiker, 106–43 v.Chr .) 1 Schiller bringt diesen Zweizeiler in seinem Gedicht „Der Spaziergang“ von 1795. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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