Ex libris Latein-Textband

154 Mythos und Rezeption | Vergils Aeneis Aeneas – ein Held mit einer Mission In seinem Prooemium gibt Vergil das Thema seines Werkes an, ohne dabei seinen Helden beim Namen zu nennen: Arma 1 virumque cano, Troiae qui primus ab oris 2 Italiam fato profugus 3 Laviniaque a venit 4 litora; multum ille et terris iactatus et alto 5 vi superum 6 , saevae memorem 7 Iunonis ob iram, multa quoque et bello passus, dum conderet urbem inferretque deos Latio b , genus 8 unde 8 Latinum b Albanique c patres atque altae moenia Romae. Musa d mihi causas memora, quo 9 numine laeso quidve dolens 9 regina deum 10 tot volvere 11 casus insignem pietate virum, tot adire labores impulerit 12 . Tantaene 13 animis caelestibus irae 13 ? Vergil, Aeneis 1,1–11 (Versmaß: Hexameter) L6 2 4 6 8 10 1 arma, -orum n . Pl .: hier : bella: Waffentaten 2 ora, -ae f .: Gestade, Küste 3 profugus, -a, -um: flüchtig 4 venire 4 = pervenire 4 (+ Akk .) 5 altum, -i n .: hohe See 6 superum = superorum 7 memor, -oris: unablässig 8 ordne : unde genus Latinum ‹ortum est› 9 quo numine laeso quidve dolens: wegen welcher Kränkung ihrer Gottheit oder aus welchem Kummer heraus 10 deum = deorum 11 vólvere 3 : hier : durchmachen 12 impéllere 3 , -puli: hier : zwingen 13 ordne : Tantaene irae ‹sunt› animis caelestibus? Vergils Homerimitation In Vergils „Aeneis“ ist „Homer“ allgegenwärtig. Der römische Dich- ter verleiht dadurch seinem Werk „homerische Würde“, provoziert aber darüber hinaus ganz bewusst durch „Leitzitate“ (wörtliche Anklänge) den direkten Vergleich mit seinem Vorbild, wodurch zugleich auch die Unterschiede deutlich zutage treten. In der ersten Eposhälfte (Buch 1–6) erlebt Aeneas seine Odyssee und passiert dabei viele der Orte, die zuvor auch schon Odysseus passiert hatte. Die homerischen Ungeheuer bedeuten jedoch keine wirkliche Gefahr für Aeneas, vielmehr kommt die Bedrohung von der karthagischen Königin Dido, die seinem göttlichen Auftrag im Wege steht (vgl. S. 89). In der zweiten Eposhälfte (Buch 7–12) wiederholt sich gewissermaßen der Trojanische Krieg. Kriegsgrund ist wieder eine Frau, und zwar die Prinzessin Lavinia, die der Italikerfürst Turnus Aeneas nicht kampflos überlassen will. Auch wenn Aeneas dabei oft an Achilles erinnert, sind seine Handlungen jedoch nicht wie beim homerischen Helden von persönlichem Ehr- geiz bestimmt, sondern von der richtigen Einstellung gegenüber Göttern, Gemeinschaft und Familie („pietas“). Vergils Homerimitati- onen helfen also dem mit den homerischen Epen vertrauten Leser dabei, das Geschehen der „Aeneis“ zu deuten. Diese Deutung findet auf einer Ebene statt, die man auch als „innere Handlung“ bezeich- net hat (vgl. dazu den nachstehenden Überblick auf S.155). Johann Wilhelm Beyer, Aeneas trägt den Vater Anchises, Marmorstatue, 1773–1776, Schloss- park Schönbrunn, Wien a Lavinius, -a, -um: lavinisch ( Aeneas wird in Italien eine Stadt gründen, die er nach seiner italischen Gattin Lavinium nennen wird ), Lavinia: lies : Lavinja b Latium, -i n .: Latium ( Gebiet um Rom ), Latinus, -a, -um: aus Latium c Albani (-orum) patres (-um m.Pl. ): Stadtväter Albas ( Aeneas’ Sohn Iulus wird die Stadt Alba Longa gründen ) d Musa, -ae f .: Muse ( Göttin der Inspiration ) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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