Ex libris Latein-Textband

153 Europa – Mythos und Realität | Mythos und Rezeption Vergils „Aeneis“ Vergil und die epische Tradition Jede längere, breit erzählende, zumeist in Hexametern verfasste Dichtung galt in der Antike als Epos (griech.: Wort, Vers). Erst in engerem Sinn verstand man darunter Heldendichtung. Die ersten schriftlich fixierten Epen der europäischen Literatur waren „Ilias“ und „Odyssee“ (homerische Epen, 8. Jh. v. Chr.); an ihnen orientierte sich die gesamte spätere Epik. Das heroische Epos zeichnet sich durch eine eigene Sprache aus: • Epítheton (feststehendes Beiwort zum Namen): „vielkluger Odysseus“, „pius Aeneas“ • Patronymikón (Benennung nach einem Vorfahren): Pelide (Peleussohn) = Achilleus • Formel und Formelvers (immer wiederkehrender Versteil und Vers); z. B. in der epischen Zeitangabe: „Als die Frühgebor’ne erschien, die rosenfingrige Eos“ (= zur Zeit der Morgenröte) • Gleichnis zur Verdeutlichung eines Vorgangs Kennzeichnend sind auch typische Szenen: Götter halten eine Versammlung ab (überhaupt ist das Auftreten von Göttern fester Bestandteil antiker Epik). Ein Held erhält eine Rüstung („Schildbeschreibung“), legt diese an, bewährt sich im Kampf („Aristie“) oder gerät in einen Seesturm. „Ilias“ und „Odyssee“ zählen zu den sogenannten mythologischen Epen, d. h. in ihnen ist ein Sagenstoff (trojani- scher Sagenkreis) verarbeitet. In späterer Zeit schrieb der hellenistische Dichter Apollonios von Rhodos (3. Jh. v. Chr.), der in seinen „Argonautika“ die Sage vom Goldenen Vlies gemäß den Vorstellungen alexandrinischer Kleinkunst (Gelehrsamkeit, Liebe zum Detail, geschliffene Sprache; vgl. im römischen Bereich Catull (S.75) behandelte. Eine römische Eigenart stellt das historische Epos dar, für das die eigene, römische Geschichte den Stoff lieferte. Das wichtigste Beispiel dafür sind die „Annales“ des Ennius (3./2. Jh. v. Chr.), die inhaltlich den Bogen von der mythischen Vorzeit Roms bis in die Zeit des Dichters spannten. In bewusster Auseinandersetzung mit der epischen Tradition verfasste schließlich P. Vergilius Maro zu Beginn der Herrschaft des Augustus seine „Aeneis“. In zwölf Büchern wird dort die Geschichte des Trojaners Aeneas erzählt, der vom Schicksal („fatum“) dazu ausersehen wurde, Stammvater Roms und Ahnherr des Kaisers Augustus zu werden. Eingeschobene Vorausblicke auf Roms Geschichte machen dabei das mythologische Epos gleichzeitig auch zu einem historischen. Das Ziel von Aeneas’ Mühen ist die augusteische Friedenszeit. Vergil selbst stammte aus der Gegend um Mantua in Oberitalien, wo er 70 v. Chr. geboren wurde. Die Zeit der Bürgerkriege (49–42 v. Chr.) verbrachte er am Golf von Neapel als Student. Als Dichter machte er sich mit seinen Hirtengedichten („Bucolica“) einen Namen. Durch diese wurde der Kunstförderer und enge Vertraute Octavians, Maecenas (vgl. S. 24), auf ihn aufmerksam und nahm ihn in seinen Dichterkreis auf. Vergil widmete ihm sein höchst anspruchs- volles Lehrgedicht vom Landbau („Georgi- ca“). Seit Octavian, der ab 27 v. Chr. den Titel Augustus führte, zum Alleinherrscher aufgestiegen war, arbeitete Vergil an seinem Epos „Aeneis“. Der Tod des Dichters 19 v. Chr. verhinderte zwar die endgültige Fertig- stellung des Werkes, doch Kaiser Augustus selbst veranlasste die Veröffentlichung. Als Nationalepos der Römer wurde die „Aeneis“ über die Antike hinaus in der Schule gelesen und blieb bis heute ein fester Bestandteil des Lateinunterrichts. Vergil und die Musen, römisches Mosaik, 3. Jh. n.Chr., Bardomuseum, Tunis Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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