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145 Ovids „Metamorphosen“ | Mythos und Rezeption Das Lied des Orpheus beeindruckt die Bewohner der Unterwelt: Tunc primum lacrimis victarum carmine fama est Eumenidum a maduisse genas 1 . Nec regia coniunx sustinet oranti nec, qui regit ima 2 , negare Eurydicenque b vocant. Umbras 3 erat illa recentes inter 3 et incessit passu de vulnere tardo. Hanc simul et legem Rhodopeïus c accipit Orpheus, ne flectat retro sua lumina, donec 4 Avernas d exierit valles d , aut irrita 5 dona futura 6 . Carpitur adclivis 7 per muta silentia trames 8 , arduus, obscurus, caligine 9 densus opaca 10 , nec procul afuērunt 11 telluris margine 12 summae: Hic, ne deficeret 13 , metuens avidusque videndi flexit amans oculos, et protinus illa relapsa est, bracchiaque intendens prendique et prendere certans 14 nil nisi cedentes infelix arripit auras! Iamque iterum moriens non 15 est de coniuge quicquam questa suo 15 (quid 16 enim nisi se quereretur amatam 16 ?) supremumque „Vale“, quod iam vix auribus ille acciperet, dixit revolutaque rursus eodem 17 est. Ovid, Metamorphosen 10,45–63 (Versmaß: Hexameter) II 1 gena, -ae f. : Wange 2 ima, -orum n . Pl. : Unterwelt 3 umbras … recentes inter = inter recentes umbras 4 donec: bis 5 irritus, -a, -um: sinnlos, vergeblich 6 futura (e rgänze : esse): werde sein 7 acclivis, -e: ansteigend 8 trames, tramitis m .: Pfad 9 caligo, caliginis f .: Dunkel 10 opacus, -a, -um: schattig 11 afuerunt = afuerunt 12 margo, marginis m .: Rand 13 defícere 3 M: schwach werden; deficeret: Subjekt ist Eurydike 14 certare 1 (+ Inf .): sich bemühen 15 ordne : non quicquam (= nihil) questa est de coniuge suo 16 ordne: quid enim ‹illa› quereretur ( Konj. Impf. ; übersetze mit : „hätte sollen“) nisi se amatam ‹esse› 17 eodem ( Adv .): ebendorthin c Rhodopeïus, -a, -um: vom Rhodopegebirge ( Orpheus’ Heimat ) d Averna (-ae) vallis (-is f. ): das Avernertal ( ein Eingang in die Unterwelt ) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Die Unterwelt Pluto (griech. Hades) und Proserpina (griech. Perse- phone) beherrschen das finstere Reich der Toten unter der Erde, in dem die Verstorbenen ihr Schattendasein führen. Eingänge zur Unterwelt befanden sich der Sage nach auf der Peloponnes bei dem Vorgebirge Taenaron und in Unteritalien im Talkessel des Averner- sees bei Cumae. Nachdem die Toten von Merkur (griech. Hermes) hinabgeführt worden sind, setzt sie der Totenfährmann Charon über die Gewässer, die die Unterwelt umgeben (Acheron, Styx, …), über. Jenseits des Flusses hält der Höllenhund Cerberus Wache, um alle einzulassen, aber keinem mehr die Rückkehr zu gestatten. Dann halten die Totenrichter über die Verstorbenen Gericht: Die Frommen dürfen in das von der Lethe, dem Strom des Vergessens, umflossene Elysium eingehen; die Frevler aber werden in den von einer dreifachen Mauer umschlossenen Tartarus geworfen, um den ein Feuerstrom fließt. Dort büßen sie ewige Qualen. Der Raub der Proserpina Proserpina (griech. Persephone) ist die Tochter der Ceres (griech. Demeter), der Göttin des Ackerbaus. Pluto überrascht das junge Mädchen, das gerade mit ihren Freundinnen am See Pergusa in der Nähe von Henna in Sizilien Blumen pflückt, und entführt es in die Unterwelt. Ceres aber sucht die Tochter verzweifelt auf dem ganzen Erdkreis. Als sie vom Raub erfährt, lässt sie aus Protest keine Saaten mehr wachsen. Daraufhin schreitet Jupiter vermittelnd ein: Proserpina muss künftig die Hälfte des Jahres bei ihrem Gatten in der Unterwelt, die übrige Zeit bei ihrer Mutter im Olymp zubringen. In dieser Zeit lässt Ceres alles blühen und gedeihen, während in jenen Monaten, in denen sie über die Abwesenheit ihrer Tochter trauert, alle Felder brachliegen. Die Geschichte, die Ovid ebenfalls in den „Metamorphosen“ erzählt (Metamor- phosen 5,341 ff.), liefert also eine mythologische Erklärung für das Phänomen der Jahreszeiten. a Eumenides, -um f.Pl. : die Eumeniden ( Rachegöttinnen ) b Eurydice, -es f. ( Akk .: Eurydicen): Eurydike Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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