Ex libris Latein-Textband

141 Ovids „Metamorphosen“ | Mythos und Rezeption Pygmalion Der Bildhauer Pygmalion hält alle Frauen seiner Heimatinsel Zypern für lasterhaft. Er lebt daher ehelos und widmet sich seiner Kunst: Interea niveum mira feliciter arte sculpsit a ebur formamque dedit, qua femina nasci nulla potest, operisque sui concepit amorem. ( … ) Pygmalions Kunst ist so groß, dass man glauben könnte, die Statue lebt. Miratur et haurit 1 pectore Pygmalion simulati 2 corporis ignes 1 . Saepe manus operi temptantes admovet, an 3 sit corpus an 3 illud ebur, nec adhuc ebur esse fatetur. Oscula dat reddique putat loquiturque tenetque et credit tactis digitos insidere 4 membris et metuit 5 , pressos veniat ne 5 livor in artus, et modo blanditias adhibet, modo grata 6 puellis munera fert illi conchas teretesque lapillos et parvas volucres et flores mille colorum liliaque pictasque 7 pilas 8 et ab arbore lapsas Heliadum b lacrimas. Ornat quoque vestibus artus, dat digitis gemmas, dat longa monilia 9 collo. Aure leves bacae 10 , redimicula pectore pendent: cuncta decent 11 – nec nuda minus formosa videtur. Collocat hanc stratis 12 concha Sidonide c tinctis appellatque tori sociam. Ovid, Metamorphosen 10,247–268 (gekürzt; Versmaß: Hexameter) I 1 haurire 4 ignes (+ Gen .): in Liebe entbrennen (zu) 2 simulare 1 : nachbilden 3 an …an: ob … oder 4 insídere 3 (+ Dat .): einsinken 5 metúere 3 , ne: fürchten, dass 6 gratus, -a, -um (+ Dat.) : willkommen 7 pictus, -a, -um: bunt 8 pila, -ae f .: Ball 9 monile, monilis n. : Halskette 10 baca, -ae f. : Perle 11 decére 2 : eine Zier sein 12 stratum, -i n. : Decke a Subjekt ist Pygmalion b Heliades, -um f. : die Heliaden (Heliostöchter; ihre Tränen wurden in Bernstein verwandelt) c Sidonis, -idis f. : aus Sidon ( Stadt in Phönikien, berühmt für Purpur) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Der Pygmalion-Effekt Der Pygmalion-Effekt geht auf die klassischen Untersuchungen von Rosenthal und Jacobson (1966) zurück. Die Ergebnisse waren eine Sensation und lösten heftige Kontroversen aus. Die SozialpsychologInnen Robert Rosenthal und Leonore Jacobson hatten im Rahmen eines Experiments eine Reihe von Grundschulkindern zufällig ausgewählt. Den Lehrkräften hatten sie mitgeteilt, dass sich diese Kinder im Verlauf des nächsten Jahres intellektuell hervorragend entwickeln würden. Ein Jahr später schnitten die zufällig benannten Kinder bei einem Intelligenztest tatsächlich besser ab als zu Beginn des Experiments. In späteren Studien wurden die Ergebnisse mehrfach bestätigt. Insbesondere in den unteren Schulklassen wirkt der Pygmalion-Effekt stark. Videoanalysen zeigten, dass LehrerInnen die „intelligenten“ SchülerInnen mehr anlächeln, mehr Augenkontakt haben und ihre Kommentare mehr loben. Dieses meist unbewusste Verhalten beeinflusst die tatsächlichen Leistungen der Betroffenen. Dies gilt selbst dann, wenn die SchülerInnen von den Erwartungen nichts wissen und die LehrerInnen glauben, sich neutral zu verhalten. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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