Ex libris Latein-Textband

133 Ovids „Metamorphosen“ | Mythos und Rezeption Aus „Die letzte Welt“ von Christoph Ransmayr In Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“ macht sich der Römer Cotta auf die Suche nach Ovid in dessen Verban- nungsort Tomi, wo ihm eine Reihe seltsam verfremdeter Gestalten aus den „Metamorphosen“ begegnen. So trifft er auch beim Seiler Lycaon eine geheimnisvolle junge Frau in Schwarz…: Cotta (…) wandte sich an die Schwarzgekleidete: „Wer bist du?“ und, als die keine Antwort gab, an Lycaon: „Wer ist sie?“ Jetzt hielt sich die Kniende die flache Hand vor den Mund, als wollte sie sich selbst am Sprechen hindern. Hautflocken schneiten auf ihre Brust, sie starrte Cotta an und wiederholte „Wer bist du?“, streckte aber dann ihre Hand nach dem Seiler aus und fragte ihn im Tonfall Cottas „Wer ist sie?“ Lycaon lächelte. Wie das verwirrte und beschämte Opfer eines hundertmal geübten Wortspiels zwischen Eingeweih- ten flüchtete sich Cotta in ein ratloses Gerede: „Arbeitet sie für dich?“ fragte er Lycaon, der ihn nicht ansah, „Wie heißt sie?“, und stellte sich dann der Schwarzgekleideten wie einer Blödsinnigen vor, zeigte auf seine Brust und sagte „Cotta“. „Cotta“, wiederholte die Schwarzgekleidete und ließ ihn nicht aus den Augen, „Arbeitet sie für dich? Wie heißt sie?“ „Echo“, sagte der Seiler endlich, „sie heißt Echo; sie hält mein Haus sauber.“ „Haus“, flüsterte Echo nun wieder tief über das Muster der Spuren gebeugt, „mein Haus“. Reproduktion, Transfer und Reflexion • Übe das laute Lesen des Textes im Versmaß (R) . • Gliedere den Text in Abschnitte unter Berücksichtigung des Wechsels der Erzählperspektive zwischen Echo und Narziss (R) . • Fasse die Verwandlung der Echo zusammen und analysiere die Gründe (R) . • Vergleiche die Darstellung der Echo bei Ovid mit dem Ausschnitt aus „Die letzte Welt“ und finde Gemeinsam- keiten und Unterschiede (T) . • Nimm Stellung zu Echos Schicksal und überlege, welche Erklärungen die moderne Psychologie für Echos Verhalten finden würde (X) . Narziss Auch Narziss, der eben noch Echo verschmähte, erleidet ein tragisches Schicksal. Schon bei seiner Geburt war ihm vom Seher Teiresias prophezeit worden, er würde nur dann lange leben, wenn er sich nicht selbst erkennt („si se non noverit“). Als er müde vom Jagen an eine Quelle kommt und trinken will, sieht er an der Wasseroberfläche das Gesicht eines wunderschönen Jünglings. Fasziniert von diesem Anblick und glühend vor Leidenschaft, versucht er, ihn zu umarmen und zu küssen, muss aber mit Entsetzen feststellen, wie erfolglos sein Bemühen ist. Als er den Grund dafür, sein eigenes Spiegelbild, und damit die Aussichtslosigkeit seiner Liebe erkennt, verfällt er in tiefe Verzweiflung, die schließlich zum Tod führt. Die verwan- delte Nymphe Echo ist auch bei seinem Tod an seiner Seite. An Stelle seines Körpers bleibt nur eine Blume mit weißen Blüten, in deren Namen Narziss weiterlebt. Der Begriff des Narzissmus spielt auch in der modernen Psychologie eine wichtige Rolle. Caravaggio, Narziss, 1599, Galleria Nazionale, Rom Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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