Ex libris Latein-Textband

123 Christentum und Rom | Formen der Lebensbewältigung Die Tugenden Das lateinische Wort „virtus“ übersetzt den griechischen Begriff „areté“, der im Deutschen mit „Tugend“ nur unzu- reichend wiedergegeben wird. Eigentlich bedeutet er „Vortrefflichkeit“ bzw. die „gute Eigenschaft“, in der etwas hervorragt. In der Philosophie bezeichnet „areté“ einen ethischen Wert: Platon verstand darunter die „Tauglich- keit der Seele zu dem ihr gemäßen Werke“. Für Aristoteles war „areté“ das richtige Verhalten in der Mitte zwi- schen zwei extremen Fehlhaltungen (z. B. Tapferkeit zwischen Tollkühnheit und Feigheit). Die Stoiker wiederum setzten sie mit dem gleich, was moralisch „ehrenhaft“ ist („honestum“) und sich im Einklang mit Vernunft und Natur befindet. Der Philosoph Seneca formulierte es demnach so: Nihil enim aliud est virtus quam recta ratio. Seneca, Epistulae morales 66,32 Die Einteilung in vier Haupttugenden geht auf Platon zurück. Sie wurde von anderen Philosophenschulen und schließlich auch vom Christentum übernommen. Im Katechismus der Kirche heißt es bis heute: Quattuor virtutes munere funguntur „cardinis“ 1 . Propterea appellantur „cardinales“ 2 ; ceterae omnes circum eas ordinantur 3 . Illae sunt prudentia, iustitia, fortitudo et temperantia. Katechismus 1805 Die Kardinaltugenden werden gern als Frauen abgebildet, die man an ihren Attributen erkennen kann. • Prudentia (Klugheit) mit Spiegel und nach einem Bibelwort mit einer Schlange (NT Matthäus 10,16) • Iustitia (Gerechtigkeit) mit Schwert oder Waage, manchmal mit verbundenen Augen • Fortitudo (Tapferkeit) mit Säule oder Eichenstamm, oft auch mit Helm und Schild • Temperantia (Mäßigung) mit zwei Gefäßen, um Wein und Wasser richtig zu mischen, oder mit Zügeln Die vier Kardinaltugenden, italienische Gewölbemalerei in der Kathedrale von Albi, Frankreich, um 1510 Das Christentum fügte diesen noch drei göttliche Tugenden hinzu, die der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief aufzählt: Nunc autem manet fides, spes, caritas, tria haec; maior 1 autem ex his 1 est caritas. NT 1. Korintherbrief 13,13 Auch diese werden als Frauengestalten dargestellt: • Fides (Glaube) mit Kreuz oder Kelch mit Hostie, oft in weißem Gewand • Spes (Hoffnung) mit Anker, manchmal in Gebetshaltung, oft grün gekleidet • Caritas (Liebe) mit Herz oder Füllhorn, häufig von Kindern umringt, oft in rote Gewand I II 1 cardo, cardinis m. : Türangel ( Punkt, um den sich alles dreht ) 2 cardinalis, -e: Kardinal- 3 ordinare 1 : (an-)ordnen III Franz Kohl, Göttliche Tugenden, 1751–53, Portal von St. Peter, Wien 1 maior …ex his = maxima harum Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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