Ex libris Latein-Textband

11 Carmina Burana Die Carmina Burana sind eine Sammlung mittelalter- licher Gedichte aus dem 11. bis 13. Jh., die überwiegend in lateinischer Sprache verfasst sind. In geringem Um- fang sind die Gedichte auch in mittelhochdeutscher, altfranzösischer und provenzalischer Sprache geschrie- ben. Der Name der Sammlung bezieht sich auf die Handschrift, in der die Gedichte enthalten sind. Sie wur- de 1803 im Kloster Benediktbeuern in Bayern gefunden, entstand aber nach der Meinung der Wissenschaftler weiter südlich, entweder in der Steiermark im Kloster Seckau oder in der Nähe von Brixen in Südtirol. Die Themen der ca. 250 Gedichte sind sehr vielfältig, die meisten Gedichte (und auch die berühmtesten) be- schäftigen sich mit Liebe, Trinken und dem Glücksspiel. Diese Art von Dichtung nennt man Vagantenlyrik. Die Vaganten (von lat. vagári – umherziehen) waren Kleriker ohne feste Anstellung. Sie waren hochgebildet und hatten an Universitäten studiert, daher war Latein für sie die Umgangssprache. Ihre Welt ist natürlich die des Christentums, daneben aber kennen sie auch die großen römischen Dichter, Vergil, Horaz und vor allem Ovid. Die heidnisch-antike Mythologie wird bedenken- los in die christliche Weltordnung integriert – vor allem die Göttin Venus, der Gott Bacchus und die Göttin For- tuna. Die Vagantendichter schaffen so eine eigene Welt, ihr bevorzugter Lebensraum ist das Wirtshaus, wo sie trinken und ihren Besitz beimWürfelspiel verlieren. Von ihren Gönnern erbetteln sie dann in Gedichten Kleidung („Mantelgedichte“) und finanzielle Unterstützung. Sie sind zwar Gelehrte, das Thema ihrer Gedichte ist aber oft das Leben der einfachen Leute. Ihr Verhältnis zum „Establishment“ ist zwiespältig: Einerseits sind sie auf ihre Gönner angewiesen, anderseits sparen sie nicht mit Spott, Satire und Parodie. Einige dieser Vagantendichter sind auch namentlich bekannt, so z. B. Hugo von Orléans; den Namen des so- genannten „Archipoeta“ kennen wir dagegen nicht. Im Gegensatz zur quantitierenden Metrik der Antike überwiegt in mittellateinischen Gedichten bereits die akzentuierende Metrik. Auch der Reim wird bereits ver- wendet, im Gegensatz zur antiken Lyrik. Eine typische Strophenform ist die Vagantenstrophe – sie umfasst jeweils vier trochäische Verse in Paarreimen. Bei ca. 40 Liedern enthält die Handschrift auch Notie- rungen der Melodien in Form von linienlosen Neumen, grafischen Zeichen, die den melodischen Verlauf unge- fähr wiedergeben. Daher gibt es auch Versuche, diese Gedichte in ihrer ursprünglichen Form musikalisch wie- derzugeben. Berühmt wurden die Carmina Burana je- doch vor allem in der musikalischen Umsetzung durch Carl Orff, der in den 1930er-Jahren 24 dieser Gedichte zu einer szenischen Kantate (für Solisten, Chor und Orches- ter) verarbeitete (vgl. S. 80). Die Darstellung des Rads der Göttin Fortuna im Codex Buranus, um 1230, Bayerische Staats- bibliothek, München Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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