Ex libris Latein-Textband

109 Cicero als philosophischer Autor | Formen der Lebensbewältigung Seneca, ein Philosoph der Kaiserzeit Lucius Annaeus Seneca (4 v. Chr–65 n. Chr.) stammte aus Corduba (heute Cordoba) in Spanien und gehörte dem Ritterstand an. Im Zuge seiner Ausbildung in Rom wurde Seneca mit den Lehren der Stoiker und Neupythago- reer bekannt. Dank seiner Redebegabung gelang ihm der Aufstieg in die obersten gesellschaftlichen Kreise der Hauptstadt. Er fand sogar Aufnahme in den Senat und begann die Ämterlaufbahn. Großen Erfolg hatte er als „Konzertredner“ („declamator“). Zu dieser Zeit hatte die Rhetorik ihre Bedeutung in Politik und Rechtswesen verloren, öffentliche „Schaureden“, in denen die Redner ihr Können unter Beweis stellten, dienten der reinen Unterhaltung. Senecas Karriere wurde unterbrochen, als ihn Kaiser Claudius infolge einer Hofintrige nach Korsika verbannte (41–48 n. Chr.). Nach Jahren des Exils wurde er jedoch von Agrippina, Claudius’ Nichte und vierter Frau, zurück- berufen und zum Lehrer und Erzieher ihres Sohnes Nero bestimmt. Als dieser nach Claudius’ Tod Kaiser wurde, übernahm Seneca zusammen mit dem Gardepraefekten Burrus einige Jahre die Regentschaft. Die Jahre, in denen er die Geschicke des Reiches mitbestimmte (ein Philosoph im Sinne Platons an der Spitze des Staates!), galten als Zeit der Blüte. Nero aber entglitt immer mehr der Kontrolle und wurde immer unberechenbarer. Schließlich zog sich Seneca vom Hof ins Privatleben zurück. Dem Kaiser aber blieb er verdächtig, und so zwang dieser seinen alten Lehrer 65 n. Chr. unter dem Vorwand, sich an einer Verschwörung gegen ihn beteiligt zu haben, zum Freitod (vgl. S. 100). Seneca war Vertreter der jüngeren Stoá (wie Epiktet und Kaiser Mark Aurel), doch zeigte er sich auch gegenüber epikureischen Gedanken durchaus offen. Philosophie diente ihm in erster Linie als praktische Lebenshilfe. So verzichtet er weitgehend auf die Darlegung trockener Theorien und geht bei seinen philosophischen Betrach- tungen sehr oft von Alltagssituationen aus. Senecas philosophisches Hauptwerk sind seine „Epistulae morales ad Lucilium“, die er ab dem Jahre 62 n. Chr. verfasste. Erhalten haben sich 124 Briefe, eingeteilt in 20 Bücher. Adressat der Sammlung ist Senecas etwas jüngerer Freund und Schüler Lucilius. Dieser braucht nicht mehr vom Wert der Philosophie für ein rechtes und glückliches Leben überzeugt zu werden. Jedoch soll sein innerlich vorhandener Antrieb („impetus“), richtig zu handeln, unter Senecas Anleitung nach und nach zur unerschütterlichen Lebenshaltung („habitus“) gefestigt werden. Ziel ist es, im Einklang mit sich selbst so wie der göttlichen Weltordnung, unbeeindruckt von allen äußeren Einflüssen, innere Ruhe und Seelenfrieden zu finden. Seneca schreibt nicht wie Cicero in ausgewogenen Satzperioden, sondern pflegt einen „Stakkatostil“. Hauptsät- ze überwiegen. Dabei hat er besonders die rhetorische Wirkung im Auge. Pointierte Antithesen, Metaphern und Bilder prägen seine Schreibweise. Weitere philosophische Schriften Senecas sind seine Trostschriften („consolationes“), Traktate zur Ethik („dialogi“), z. B. „De brevitate vitae“), und eine Abhandlung über naturwissenschaftliche Fra- gen („Naturales quaestiones“). Darüber hinaus verfasste er auch Tragödien, in denen er die verderbliche Auswirkung von Affekten auf das menschliche Leben darstellt (z. B. „Medea“). Zu erwähnen ist auch eine bissige Satire auf den Tod des Kaisers Claudius, dem er sein Exil niemals verziehen hatte. Vergeblich versucht darin Claudi- us im Götterhimmel Aufnahme zu finden und endet schließlich im Tartarus. Mit dem Titel „Apocolocyntosis“ („Verkürbissung“) wird auf die für Kaiser nach ihrem Tod übliche Apotheose („Vergöttlichung“) angespielt. L. Annaeus Seneca, Marmorbüste (Doppelbildnis mit Sokrates auf der Rückseite), 3. Jh., Staatliche Museen, Berlin Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlag öbv

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