Ex libris Latein-Textband

106 Formen der Lebensbewältigung | Die hellenistischen Philosophenschulen Cicero als philosophischer Autor Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), der dank seiner Fähigkeiten als Redner eine steile politische Karriere ge- macht hatte (vgl. S. 33), war von Jugend an auch philosophisch interessiert. Der philosophischen Schriftstellerei wandte er sich allerdings erst zu, als die politischen Verhältnisse es ihm unmöglich machten, weiterhin aktiv am Staatsleben teilzunehmen. Zuerst geschah dies, nachdem Caesar, Pompeius und Crassus durch einen priva- ten Pakt die Macht an sich gerissen hatten (1. Triumvirat). Cicero musste zunächst ins Exil nach Makedonien (58 v. Chr.), blieb aber auch nach seiner Rückkehr nach Rom politisch kaltgestellt. Umso mehr wollte er seine Zeit sinnvoll und ehrenhaft zubringen („otium cum dignitate“). In den Jahren 55 bis 51 v. Chr. verfasste er seine ersten drei Dialoge (fast alle philosophischen und rhetorischen Schriften Ciceros sind in Dialogform abgefasst): • „De oratore“: 3 Bücher über den idealen Redner • „De re publica“: 6 Bücher über den Staat (Vorbild Platons „Politeia“), nur teilweise erhalten (vgl. S. 51) • „De legibus“: über die Gesetze (Vorbild Platons „Nomoi“), ebenso nur fragmentarisch erhalten Im Jahre 51 v. Chr. wurde Cicero Prokonsul von Kilikien. Darauf folgte der Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius. Letzterem schloss sich nach langem Zögern auch Cicero an. Nach dem Sieg Caesars wurde er zwar begnadigt, war jedoch wieder zur politischen Untätigkeit verurteilt. Ab 46 v. Chr. nützte Cicero sein unfreiwilliges „otium“ dazu, die griechische Philosophie in lateinischer Sprache darzustellen. Einige wichtige Werke dieser Zeit sind die folgenden: • „De finibus bonorum et malorum“: 5 Bücher über das höchste Gut und Übel • „Tusculanae disputationes“: Gespräche in Tusculum in 5 Büchern • „De natura deorum“: 3 Bücher über das Wesen der Götter • „De officiis“: 3 Bücher vom pflichtgemäßen Handeln Nach der Ermordung Caesars (44 v. Chr.) sah Cicero erneut die Zeit gekommen, selbst Politik zu machen. Seine Versuche, die Republik zu retten, waren freilich zum Scheitern verurteilt. Von den neuen Machthabern, Mark Anton und Octavian, geächtet, bezahlte er schließlich sein politisches Engagement mit dem Leben (43 v. Chr). Cicero kann nicht als eigenständiger Philosoph gelten. Seine Leistung liegt vielmehr darin, dass er es verstand, die mitunter trockenen Lehren griechischer Denker in ansprechender literarischer Form einer lateinischen Leserschaft näherzubringen. Erstaunlich ist dabei der Umfang seines philosophischen Werks, das innerhalb nur weniger Jahre entstand (55–51 und 46–44 v. Chr.). Besonders die zweite Schaffensperiode Mitte der Vierziger- jahre hinterließ eine ganze Reihe teils mehrbändiger Schriften. Mit seiner stilistischen Meisterschaft setzte Cicero in der philosophischen Literatur Maßstäbe, die für spätere lateinische Autoren verbindlich wurden. Dazu kam, dass einschlägige philosophische Fachbegriffe von Cicero aus dem Griechischen passend ins Lateinische übertragen wurden, sodass die Basis gelegt war, nun auch in lateinischer Sprache eigenständig zu philoso- phieren. Cicero selbst fühlte sich der Akademie, der Schule Platons, verbunden, die damals in zwei Ausrichtungen existierte. Die Skeptiker wandten sich gegen jeden Dogmatismus, bestritten, dass es sichere Erkenntnis geben könne, und zogen alles in Zweifel. Ihre große Zeit hatten sie allerdings schon hinter sich. Bei ihrem letzten bedeutenden Vertreter, Philon von Larissa, lernte Cicero eine gemäßigte Form dieses Skeptizismus kennen. Ihr blieb er zeitlebens treu und übernahm die Methode des „in utramque partem disputare“, d. h. bei jeder Sache Für und Wider abzuwägen, um der Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Die zweite, jüngere Ausrich- tung der Akademie versuchte unter ihrem Schulleiter Antiochos von Askalon eine Annäherung an andere Philosophenschulen. Die Wahrheit liege in dem, worin alle wahren Philosophen übereinstimmten. Unter- schiedliche Auffassungen beruhten in letzter Konsequenz nur auf unterschiedlichen Formulierungen, die doch dasselbe meinten. Die Ansichten anderer Schulen, die man selbst als richtig erkannt hatte, dürfe man für sich übernehmen. Ein solches Auswählen aus Lehrmeinungen bezeichnet man als Eklektizismus. Auch Cicero, der Antiochos gehört hatte, pflegte diese Einstellung. M. Tullius Cicero, Marmorbüste, 50–43 v.Chr, Kapitolinische Museen, Rom Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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