Ex libris Latein-Textband

105 Die hellenistischen Philosophenschulen | Formen der Lebensbewältigung Diogenes Eine antike Anekdote, die sich mit dem Philosophen Diogenes auseinandersetzt, wird in den mittelalterlichen „Gesta Romanorum“ so erzählt: (…) Diogenes a ita erat in paupertate 1 positus, quod dolium habuit pro domo, cuius ostium ad solem semper dirigebat 2 . Ad quem in sole existente cum rex Alexander accessisset, dixit ei, quod peteret ab eo, quidquid ei placeret. At ille: „Vellem pre 3 ceteris 3 , ut non stares inter me et solem.“ Et sic Alexander, qui omnes naciones 4 vicit, ab illo paupere victus est. Gesta Romanorum 183 (gekürzt) Zusatztext 1 paupertas, -atis f .: Armut 2 dirígere 3 : hier : ausrichten 3 pr‹a›e ceteris: vor allem 4 naciones = nationes a Diogenes, -is m .: Diogenes ( griechischer Philosoph aus Sinope; 4.Jh. v.Chr. ) 2 4 6 Die Kyniker Die Kyniker, „Hundsphilosophen“ (griech. kynikós: hundartig), suchten das Glück in absoluter Bedürfnislosigkeit. Sie verstanden sich als Weltbürger, die unabhängig von allen äußeren Gütern einzig nach der Tugend strebten. Viele ihrer Ansichten fanden Eingang in die Philosophie der Stoá. Gleichzeitig waren die Kyniker äußerst zivilisa- tionskritisch eingestellt, negierten alle gesellschaftlichen Konventionen (Ehe, Familie, Staat) und scheuten sich nicht, oft und gern öffentliches Ärgernis zu erregen. Der bekannteste Kyniker ist Diogenes von Sinope (4. Jh. v. Chr.). Ein etwas anderes Philosophengespräch Der griechische Satiriker Lukian (2. Jh. n. Chr.) beschreibt das Verhalten diverser Philoso- phen bei einer Hochzeitsgesellschaft: Hermon a ( der Epikureer ) und Zenothemis b ( der Stoiker ) saßen, wie gesagt, nebenein- ander und hatten eine gemeinschaftliche Schüssel. Solange ihre Anteile gleich waren, nahm jeder den seinen ganz verträglich. Allein das Huhn, das vor Hermon a lag, war vermutlich aus bloßem Zufall, fetter als das andere. Anstatt nun das seine zufrieden hinzunehmen, greift Zenothemis b (…) über das seine weg nach dem fetteren Huhn des Hermon a . Dieser wollte sich nicht übervorteilen lassen und greift auch danach. Darüber entsteht ein Geschrei, sie geraten aneinander, schmeißen sich die Hühner ins Gesicht, packen sich an den Bärten, und rufen nach Hilfe, Hermon a den Kleodemos c ( den Peripatetiker ), Zenothemis b den Alkidamas d ( den Kyniker ) und Diphilos e ( den Hauslehrer des Gastgebers ). Alle nahmen Partei, die einen für diesen, die andern für jenen. Nur Ion f ( der Akademiker ) blieb neutral. (…) ( Nach einer wilden Saalschlacht ist das Fest zu Ende :) Die Verwundeten mussten getragen werden, so übel waren sie zugerichtet. Der alte Zenothemis b , der mit einer Hand seine gebissene Nase, mit der anderen sein Auge zuhielt, schrie, er vergehe vor Schmerz, sodass Hermon a , obwohl selbst schlimm genug zugerichtet – denn es waren ihm zwei Zähne ausgeschlagen worden –, diese Äußerung als Zeugnis gegen ihn gebrauchte und sagte: „Vergiss nicht, Zenothemis b , dass dir der Schmerz heute nicht unerheblich vorkam!“ (Lukian, Symposion 43 und 47; Übersetzung nach August Pauly) a Hermon: erinnert an Epikurs Nachfolger Hermarchos b Zenothemis = „Zeno-Gesetz“ c Kleodemos = „Volk-Ruhm“ ( Klearchos und Eudemos waren Aristotelesschüler ) d Alkidamas = „Stark-Bezwinger“ e Diphilos = „Zwei-Lieb“ f Ion = „Jonier“ Reproduktion, Transfer und Reflexion • Vergleiche die stoischen und epikureischen Positionen miteinander (R, T) . • Überlege, was durch die Anekdote von Diogenes und Alexander zum Ausdruck gebracht werden soll (X) . • Zeige, wie Lukian die philosophischen Positionen in seine Satire einbaut, und nimm dazu Stellung (T, X) . Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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