Ex libris Latein-Textband

100 Formen der Lebensbewältigung | Sokrates und die Philosophie Der Tod des Sokrates Der englische Philosoph Walter Burley (14. Jh.) berichtet in seinem Werk auch über den Tod des Sokrates: ( … ) detentusque 1 est a triginta diebus in carcere, ubi mirabilem cordis constantiam se ostendit 2 habere. Nam carcer et mors eius vultum perturbare non potuerunt. Dicente autem ei quodam: „Athenienses b morte condemnaverunt te!“, respondit: „Et illos natura!“ (…) Cum iudicatum ab Atheniensibus b esset, ut hausto 3 veneno 4 periret, delatum sibi mortis poculum non aliter 5 quam medicamentum immortalitatis accepit et de mortis contemptu usque ad vitae exitum libero animo disputavit. Cum autem mortis potionem de manu carnificis 6 accepisset, admoto iam labiis 7 poculo, uxor eius Xanthippe c , quae illic aderat, vociferans 8 ait: „Heu! Innocens homo perit!“ Qui respondit: „Numquid 9 nocenti mihi duxisti 10 mori satius 11 esse?“ Walter Burley, De vita et moribus philosophorum. Hrsg. von Hermann Knust, Tübingen 1886, S.140 und 142 (gekürzt) 1 detinére 2 , -tinui, -tentum: festhalten 2 osténdere 3 , ostendi: zeigen 3 hauríre 4 , hausi, haustum: einnehmen, trinken 4 venenum, -i n .: Gift 5 aliter ( Adv .): anders 6 carnifex, carnificis m .: Henker 7 labium, -i n .: Lippe 8 vociferari 1 : laut rufen 9 numquid: etwa 10 ducere 3 ( + AcI ): glauben 11 satius ( Komp .): hier : besser a Subjekt ist Sokrates b Athenienses, -ium m.Pl .: die Athener c Xanthippe, -es f .: Xanthippe ( Frau des Sokrates ) 2 4 6 8 10 12 Der Historiker Tacitus (vgl. S. 44) berichtet über den Tod des Philosophen Seneca Folgendes: Danach öffneten sie ( Seneca und seine Frau ) sich mit demselben Schnitt die Unterarme. Weil sein greisenhaf- ter und von genügsamer Lebensweise geschwächter Körper das Blut nur langsam ausfließen ließ, öffnete er auch die Adern an den Unterschenkeln und Kniekehlen. Von heftigen Schmerzen geschwächt, riet er seiner Frau in ein anderes Zimmer zu gehen, um sie durch seinen Schmerz nicht zu entmutigen und selbst durch ihre Qualen nicht den Mut zu verlieren. (...) Inzwischen bat Seneca, da sich sein Tod dahinzog, Statius Annaeus, einen lange Zeit treu erprobten und der Medizin kundigen Freund, das schon vorbereitete Gift hervorzuholen, mit dem in Athen vom Volksgericht Verurteilte hingerichtet wurden. Es wurde ihm gebracht und er trank es, allerdings vergeblich. Seine Glieder waren schon kalt und der Körper nicht empfindlich auf die Wirkung des Giftes. Schließlich stieg er in ein warmes Bad, bespritzte die nächststehenden Sklaven, wobei er hinzufügte, er gieße dieses Trankopfer Jupiter, dem Befreier, aus. Daraufhin wurde er in ein Dampfbad gebracht, starb infolge des Dampfes dort und wurde ohne feierliches Begräbnis verbrannt. So hatte er es schriftlich verfügt, als er noch, sehr reich und mächtig, für sein Ende Vorsorge traf. (Tacitus, Annalen 15,63–64; Übersetzung: Elias Ledermann) Reproduktion, Transfer und Reflexion • Beschreibe ausgehend vom lateinischen Text Sokrates’ Einstellung zum Tod. (R) Überlege, wie er sich noch hätte verhalten können (X) . • Ziehe zum Vergleich die oben angeführte Stelle aus Tacitus’ Annalen heran und zeige Ähnlichkeiten und Unterschiede im Tod der beiden Philosophen auf (T) . • Überlege unter Einbeziehung des Bildes, welche Rolle der Tod für religiöse und philosophische Menschen spielen kann (X) . Guido Reni, Das Martyrium der Heiligen Katharina von Alexandrien, 1606/07, Diözesanmuseum, Albenga Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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