Ex libris Latein-Einstiegstexte

57 Im Reich des Sultans Ogier Ghislain de Busbecq Ogier Ghislain de Busbecq (Augerius Gislenus Busbe- quius, 1522–1592) wurde in Flandern, an der heute bel- gisch-französischen Grenze geboren. Er war ein Unter- tan Kaiser Karls V. (1519–1556) und blieb bis an sein Lebensende den Habsburgern verbunden. Er studierte in Löwen, Paris, Venedig, Bologna und Padua und er- warb sich vielfältige Sprachkenntnisse, die ihn für sei- nen späteren diplomatischen Dienst besonders qualifi- zierten. Im Herbst des Jahres 1554 wurde er von Karls Bruder Ferdinand I. (1556–1564) als Botschafter zu Sul- tan Süleyman I., genannt „der Prächtige“ (1520–1566), nach Konstantinopel geschickt – „obwohl ich weder in den Angelegenheiten noch in den Sitten der Türken Er- fahrung hatte“, wie Busbecq schrieb. Die Reise selbst war gefährlich; sein Aufenthalt in der Türkei war von vielfältigen Schikanen geprägt. So etwa wurde er stän- dig bewacht und stand praktisch unter Hausarrest. Busbecq fand den Sultan nicht in seiner Residenz in Konstantinopel vor, sondern musste ihm in die alte Kö- nigsstadt Amasya (nordöstlich von Ankara) nachreisen. Als er den Sultan endlich antraf, hatte dieser jedoch ge- rade keine Lust auf Friedensgespräche. Lediglich einen sechsmonatigenWaffenstillstand konnte Busbecq errei- chen. Nach seiner Rückkehr nachWien im Juli 1555 brach er im Herbst desselben Jahres zu einer zweiten Reise auf, die ihn für sechs Jahre nach Konstantinopel führen sollte. Durch sein Geschick konnte letztlich ein achtjäh- riger Friede ausgehandelt werden. Als Humanist war Busbecq ein hervorragender Ken- ner der Antike und des antiken Lateins, das in der Frü- hen Neuzeit als vorbildlich angesehen wurde. Man schrieb wieder im Stile Ciceros; für manche Begriffe musste man natürlich neue Wörter finden (z. B. Eigen- namen, Fachausdrücke). Zum Teil griff Busbecq aber auch auf alte Bezeichnungen zurück, so z. B. wurde „Sul- tan“ mit „imperator“ übersetzt. Als Humanist interessier- te sich Busbecq auch für antike Münzen und Inschriften. In die Geschichte ging er nicht zuletzt durch die Entde- ckung der umfangreichsten lateinischen Inschrift des Altertums ein, der Res gestae divi Augusti: Dabei han- delt es sich um einen in der Ich-Form verfassten Taten- bericht des Kaisers Augustus, von dem sich Abschriften an mehreren Tempeln im Römischen Reich befanden. Die am besten erhaltene Inschrift befindet sich am Augustus-Tempel in Ankara ( lat. Ancyra), die Busbecq abschreiben ließ (im 19. Jahrhundert bekam sie deshalb in der Geschichtswissenschaft den Namen Monumen- tum Ancyranum). Darüber hinaus interessierte sich Busbecq für die Fauna und die Botanik der Türkei: Die Tulpen sind durch ihn nach Europa gekommen. Busbecqs Berichte in Briefform zeichnen sich durch die echt humanistische Tendenz aus, die fremde Kultur der Türken besser verstehen zu wollen. Sie enthalten viele Nachrichten über die Lebensweise der Türken (Kleidung, Nahrung, Sitten, Religion …) sowie über das Land. Durch seine Offenheit erwarb sich Busbecq das Vertrauen der Menschen; der Großwesir Rüstem wollte ihn sogar zum Islam bekehren. Insgesamt lässt sich sagen, dass Busbecqs Reisen – aus dem Blickwinkel der Nachwelt – weniger vom poli- tischen als vielmehr vom kulturellen und wissenschaft- lichen Standpunkt aus ein Erfolg waren. Sultan Süleyman Sultan Süleyman I., „der Prächtige“, auch genannt Kanuni, „der Gesetz- geber“ (von griech. kanón „Gesetz“). Unter ihm erreichte das Osmani- sche Reich seine größte Ausdehnung. Er konnte weite Teile Ungarns unter seine Herrschaft bringen und versuchte 1529 vergeblich, Wien zu erobern. Tizian, Bildnis des Sultans Süleyman, um 1535. Kunsthistorisches Museum, Wien Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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