Ex libris Latein-Grundkurs, Schulbuch
Die kleine literarische Form der Fabel konnte ihr antikes Publikum auf zwei Ebenen unter- halten: Einerseits lieferte sie komische, irrea- le Begegnungen zwischen Tieren, Pflanzen und anderen Lebewesen, die aber immer menschliche Eigenschaften spiegeln und sich auch miteinander unterhalten können. Auf der anderen Seite diente die Fabel dazu, auf verschlüsselte Art und Weise auf Zeitgenos- sen oder auf politische und gesellschaftliche Zustände anzuspielen und so indirekt Kritik zu üben. Inhaltlich erlaubt die Gattung dem Dichter viele Freiheiten, formal ist sie allerdings streng gegliedert und folgt einem bestimm- ten Schema: • Sie enthält einen belehrenden Teil, der ent- weder gleich zu Beginn (griech. pro- mythion – „Vorwort“) oder am Schluss (griech. epimythion – „Nachwort“) steht und eine allgemein gültige, oft sprichwort- artige Moral liefert. • Der erzählende Teil beginnt mit einer Ex- position, in der die handelnden Figuren und die Ausgangssituation vorgestellt werden. Dabei handelt es sich meistens um zwei oder mehrere Figuren, die einen Konflikt auszutragen haben. Dieser Kon- flikt kann in unterschiedlichen Kombinati- onen dargestellt werden: als Handlung, auf die eine Gegenhandlung folgt; als Handlung mit anschließender Gegenrede; als Rede, der eine Gegenrede folgt. Am Schluss wird häufig noch erzählt, zu welchem Ergebnis der Konflikt geführt hat. Berühmte Fabelautoren der Antike Der bekannteste antike Fabeldichter war Äsop, der im 6. Jahrhundert v. Chr. als Sklave auf der griechischen Insel Samos gelebt ha- ben soll. Allerdings ist es nicht sicher, ob er tatsächlich existiert hat oder ob eine Fülle von mündlich erzählten griechischen Fabeln unter seinem Namen gesammelt worden sind. Unser Lektionstext ist einer Fabel des römi- schen Dichters Phaedrus nachempfunden, der einige Fabeln des Äsop ins Lateinische übertrug und diese zum Teil stark bearbeite- te. Er lebte im 1. Jahrhundert n. Chr., war ein Freigelassener des Augustus und soll durch die Veröffentlichung seines liber fabularum in einen Konflikt mit dem Präfekten der kaiser- lichen Leibgarde geraten sein – allerdings kennen wir dazu keine Details. Die meisten seiner Fabeln handeln von Macht und Ohnmacht: Oft verurteilt Phaedrus die Mächtigen, die ihre Überlegenheit gegen- über Schwächeren ausnutzen, und rät den Schwachen, Konflikte mit der Obrigkeit zu vermeiden. Charakteristik und Aufbau einer Fabel „Wenn aber jemand die Absicht haben sollte zu kritisieren, dass hier sogar Bäume und Tiere sprechen, sollte er daran denken, dass wir nur mit erfunde- nen Geschichten scherzen.“ Phaedrus im Prolog zu seiner Fabelsammlung Tieren werden in der Fabel oft typische menschliche Eigenschaften zugeschrieben, was dazu führt, dass das Verhalten eines Tieres für das Publikum vorhersehbar wird. Schreibe unter jedes der Bilder auf dieser Seite mindestens eine Eigenschaft, die du mit dem jeweiligen Tier verbindest, und vergleiche deine Ergebnisse anschließend mit denen der anderen. Wie könnte es zu derartigen Zuschreibungen gekommen sein? Markiere im Lektionstext die typischen Elemente einer Fabel und erkläre, wie der Konflikt der beiden Tiere darin dargestellt wird. Schreibe selbst eine Fabel, in der zwei der Tiere vorkommen, denen du auf dieser Seite Eigenschaften zugeord- net hast. Achte darauf, dass in deinem Text alle charakteristischen Merkmale dieser Gattung vorkommen. 9.13 9.14 9.15 56 9 Kritische Spiegelbilder Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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