am Puls Biologie 8, Schulbuch

57 Vererbungsregeln und Humangenetik Blick in die Forschung Geschlechtsbestimmung und „DNA-Müll“ Nicht bei allen Tieren entscheiden X- und Y-Chromosomen über das Geschlecht Auf S. 49 und 52 wurde erklärt, dass das Geschlecht eines Menschen durch die Gonosomen bestimmt wird: XX ent- spricht weiblich, XY männlich. Genauer gesagt bestimmt ein einziges Gen am Y-Chromosom, dass sich ein Embryo zu einem männlichen Individuum entwickelt. Fehlt dieses Gen, wird (korrekter: bleibt) der Embryo weiblich. Nicht überall im Tierreich gilt dies. So besitzen auch Vögel Geschlechtschromosomen, doch bei ihnen besitzt das Weib- chen zwei verschiedene Gonosomen (ZW), das Männchen zwei gleiche (ZZ) (vgl. Glossar S. 49). Bei anderen Tiergruppen gibt es dagegen keinen charakteristischen Genotyp von Männchen oder Weibchen. Die Geschlechtsmerkmale von Krokodilen oder Schildkröten entwickeln sich in Abhängigkeit von den Umweltfaktoren während der Entwicklung. Man nennt dies phänotypische Geschlechtsbestimmung ( k Abb. 28). Die Sonderstellung der Gonosomen Sexualität ist im evolutionären Sinn der Austausch von Erb­ information. Rekombination mütterlicher und väterlicher Chromosomen sowie Crossing-Over führen zur Vermischung des Genotyps beider Elternteile. Dies gilt allerdings nicht für die Gonosomen, diese haben sich unabhängig voneinander entwickelt – mit Hilfe der nicht-codierenden DNA-Abschnitte („Junk-DNA“ bzw. „DNA-Müll“). Dies konnte durch ein interna­ tionales Forschungsteam belegt werden, an dem auch Wiener Genetiker rund um um Qi Zhou vom Department für mole­ kulare Evolution und Entwicklung der Universität Wien be­ teiligt waren. Die Forschungsgruppe untersuchte 11 Singvögelarten, bei denen sie zeigen konnten, wie sich W- und Z-Chromosomen im Laufe der Zeit auseinander entwickelten. Das Geschlecht bestimmende W-Chromosom besitzt (wie das Y-Chromosom der Säugetiere) nur sehr wenige funktionsfähige Gene. Diese sind von großer Bedeutung, so dass sie keinesfalls im Zuge der Evolution verloren gehen dürfen. Genau wie beim Y-Chromosom bei Männern gibt es bei einem Vogelweibchen nur eine Kopie des W-Chromosoms pro Zelle. Entsprechend können Veränderungen, die durch Mutationen entstehen, nicht durch den Austausch mit der intakten Versi- on vom homologen Chromosom ausgeglichen werden (bei ZZ ist das ja möglich, ebenso wie bei XX und allen Autosomen). Und welche Rolle spielt der „DNA-Müll“? Zwischen W- und Z-Chromosom erfolgt kein Austausch von Genen (etwa durch Crossing-Over), da sonst das geschlechts- bestimmende Gen auf dem falschen Chromosom landen könnte und das System der Geschlechtsbestimmung durch- einander bringen würde. Die Forschungsgruppe konnte vier Zeitpunkte nachweisen, an denen diese Rekombination unter- drückt wurde. Und hier kommt die nicht-codierende DNA ins Spiel: Dieser „DNA-Müll“ sei für den Verlust der Austauschfähigkeit verant- wortlich. Mit anderen Worten: Nicht-codierende DNA-Ab- schnitte ermöglichten, dass die „männlichen“ und „weiblichen“ Chromosomen getrennte Wege in der Evolution gehen konn- ten – und mussten. Abb. 28: Phänotypische Geschlechtsbestimmung. Das Geschlecht einer Meeres-Schildkröte hängt von der Außentemperatur vor dem Schlüpfen ab. 30 40 50 0 100 Temperatur (°C) Anteil (%) Basiskonzept Steuerung und Regelung: Bei der phä- notypischen Geschlechtsbestimmung ist in der Zygote noch nicht festgelegt, welches Geschlecht das Tier haben wird. Erst während der folgenden Zellteilungen wird die Genaktivität offenbar durch temperatur­ abhängige Enzyme reguliert. Dadurch wird entweder die weibliche oder die männliche Richtung in der Entwicklung eingeschlagen. Aufgabe W/S 1 Die oben genannte Forschungsgrup- pe zeigt eine Zusammenarbeit mit mehreren Instituten rund um den Globus. Suche die Arbeit im Internet und nenne die Lage der Institute. Begründe die Vorteile von derartiger internationaler Kooperation bei Forschung. Literatur Xu, L.; Auer, G.; Peona, V.; Suh, A.; Deng, Y.; Feng, S.; Zhang, G.; Blom, M. P. K.; Christidis, L.; Prost, S.; Irestedt, M.; Zhou, Q.: Dynamic evolutionary history and gene content of sex chromosomes across diverse songbirds. In: Nature Ecology & Evolution. 2019, Nr. 3, S. 834–844. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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