am Puls Biologie 8, Schulbuch

109 Die Entstehung der Artenvielfalt Ist es besser, lange zu leben? Individuen zeigen einen starken Selbsterhal- tungstrieb, um möglichst lange zu leben. Und doch variiert die Lebensdauer bei Vielzellern von wenigen Tagen, wie zB bei Rädertierchen, bis zu Jahrtausenden bei manchen Baumarten. Hier be- steht ein Unterschied zwischen dem Bedürfnis eines Individuums und dem, was optimal ist für eine Art. Ist die Lebensdauer ein durch Selektion angepasstes Merkmal? Experimente an Bakterien, Taufliegen, Fadenwür- mern und Mäusen zeigen: Wenn sich nur ältere Tiere vermehren, setzt die Alterung später ein und die Lebensdauer erhöht sich. Dafür wird aber auch die Geschlechtsreife später erreicht und die Fruchtbarkeit nimmt ab. Im alternativen Experiment passiert das Gegenteil ( k Abb. 15). Der Zusammenhang zwischen Lebensdauer und Fortpflanzung lässt sich so deuten: Wenn ein In- dividuum bereits im jungen Alter die Mehrzahl seiner Nachkommen aufziehen kann, verliert sein späterer Lebensabschnitt an Bedeutung für die Fitness. Bestehen zudem große Risiken für eine Art (zB Fressfeinde), ist es ein Vorteil, sich frühzeitig fortzupflanzen. Fertilität und Lebens- dauer stellen ein Trade-off ( k S. 106) dar. Es gibt also keine generell optimale Lebensdauer, diese hängt von vielen Faktoren ab und wird durch die Selektion angepasst. Lange Lebensdauer bedeutet späte Fort- pflanzung, und um- gekehrt – und kann ein Vorteil oder ein Nachteil sein Abb.15: Selektion auf Lebensdauer. Bei Selektionsexperimenten mit dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans unterliegt die Population einer künstlichen Selektion, nur junge Tiere können sich fortpflanzen. Nach 20 bis 25 Generationen werden die eingefrorenen Tiere aufgetaut und vermehrt. Dabei zeigt sich, dass die Tiere der späteren Generationen weniger alt werden, aber früher geschlechtsreif. Wurmeier werden auf einen Nährboden, eine Agarplatte, gegeben. Eine Probe mit Jungtieren aus jeder Generation wird bei –80 °C eingefroren. Die Würmer wachsen und vermehren sich. Als Futter dienen E. coli-Bakterien. Die Eier werden gewaschen. Die Lebensdauer beträgt normal bis 15 Tage. Sie wird auf 4 Tage beschränkt. Die Würmer werden ab- getötet. Der Zyklus wird 20- bis 25-mal wiederholt. Tag 1 Tag 5 Evolution und Komplexität Gerne sehen wir den Menschen als ein sehr komplexes, fortgeschrittenes Lebewesen. Hohe Komplexität ist aber nicht unbedingt eine Kon- sequenz der Evolution. Auch wenn der Mensch evolutionär betrachtet enorm erfolgreich ist und sich über die gesamte Erde ausbreiten konnte, sind die allermeisten Lebewesen nach wie vor sehr einfach gebaut. Die Vielfalt der Mikroorganismen , von denen die meisten kaum komplexer sind als Cyanobak- terien, hat stärker zugenommen als jene der Viel- zeller. Ein weiteres Indiz ist die Anzahl der Gene : Man- che Einzeller wie Paramecium besitzen mehr Gene als wir Menschen – hier stellt sich die Fra- ge, wie wir Komplexität definieren bzw. messen. Auch die Morphologie oder die Anzahl unter- schiedlicher Zelltypen , die ein Organismus be- sitzt, werden dazu benutzt, um Komplexität zu messen. Es gilt auch zu bedenken, dass die Evolution nicht Komplexität fördert, sondern Effizienz . Folglich ist es nicht verwunderlich, dass viele Strukturen im Lauf der Evolution wieder reduziert werden: In der Evolution von Bakterien gingen wiederholt Gene verloren, die diese nicht brauchten. Auch wenn wir uns aufgrund unserer Intelligenz als fortschrittlich sehen, übertreffen uns viele Lebewesen in anderen Eigenschaften : Viele Tiere laufen, fliegen, schwimmen, riechen, hören und sehen besser als wir. Hat Intelligenz nun einen besonderen Anpassungswert, oder ist dies nur eine von vielen Möglichkeit, in einer ständig vari- ierenden Umwelt zu überleben? Außerdem ist der Mensch stammesgeschichtlich sehr jung. Viele „einfache“ Mikroorganismen ha- ben, im Gegensatz zum Menschen, bereits Aus- sterbeereignisse in der Erdgeschichte überlebt. Ob die enorme geistige Fähigkeit nun eine ge- lungene Krönung oder ein misslungenes Experi- ment der Evolution ist, wird davon abhängen, wie der Mensch damit umgeht. Evolution führt nicht automatisch zu im- mer höherer Kom- plexität, dazu ist es schwierig Komplexi- tät zu messen oder zu definieren Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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