am Puls Biologie 6, Schulbuch
56 Methoden in der Praxis Falsch platzierte Augen Fruchtfliegen entwickeln zusätzliche Augen, wenn Master-Gene dies befehlen Walter Gehring 1 , ein Schweizer Biologe, führte 1995 gemeinsam mit seiner Forschungsgruppe ein eindrucksvolles Experiment durch. Die For- scher und Forscherinnen nahmen ein Gen von einer Maus und transferierten es in das Genom 2 der Fruchtfliege Drosophila ( k Abb.12). Bei die- sem Gen handelte es sich allerdings um kein gewöhnliches Gen, sondern um eines mit einer ganz speziellen Funktion: Der Transfer führte da- zu, dass den Fliegen zusätzliche Augen wuchsen, an völlig unerwarteten Stellen: an Beinen, Flü- geln und sogar anstatt der Antennen ( k Abb.13). Die zusätzlichen Mini-Augen, die den Fliegen wuchsen, waren Facetten-Augen, so wie alle In- sekten-Augen. Das war überraschend, nachdem das Gen das sie verursachte von der Maus stammte – und Mäuse haben keine Facetten- sondern Linsenaugen wie wir Menschen ( k Sin- ne, S. 24). Der Transfer des Gens bewirkte also die Entwicklung von Fliegen-Augen, obwohl dasselbe Gen in der Maus eigentlich für die Entwicklung von Linsen-Augen zuständig ist. Was dieses Ergebnis zeigte, war, dass die Gene, die dafür verantwortlich sind, dass sich bei der Maus und bei der Fliege Augen entwickeln, die- selben sind. Das ist deshalb so bemerkenswert, da es sich dabei um zwei völlig unterschiedliche Tiere mit unterschiedlichen Augentypen handelt! Die Augen-Gene, die dafür verantwortlich sind, dass ein Tier ein Auge entwickelt, haben sich also in den Millionen von Jahren seit der gemein- samen Abstammung von Fliege und Maus nicht wesentlich verändert. Sie sind sich nach wie vor so ähnlich, dass sie nach einem Transfer im an- deren Organismus funktionieren. Das transferierte Maus-Gen bestimmte also die Entwicklung von Organen der Fliege mit. Es „befahl“ gewissermaßen den untergeordneten Fliegen-Genen, an Ort und Stelle ein zusätzliches Fliegenauge zu bilden. Deshalb nannten die Forscher dieses Gen auch ein „Master-Gen“ und gaben ihm den Namen Pax6. Abb.12: Fruchtfliege Drosophila. Diese Fliege ist ein „Modellorganismus“ in der biologischen Forschung. Ihre Entwicklung und ihre Gene wurden umfassend studiert. Dies führte zu weitreichenden Erkenntnissen, manche davon sind auch für den Menschen relevant. Variabilität, Verwandt- schaft, Geschichte und Evolution Abb.13: Entwicklung von zusätzlichen Augen. Der Transfer eines Augen-Master-Gens von der Maus führte dazu, dass die Fliege anstelle von Antennen zusätzliche Augen entwickelte. Es handelte sich dabei um Facettenaugen, wie sie bei Insekten vorkommen: Diese bestehen aus vielen Einzelaugen und sehen daher ähnlich aus wie eine Brombeere. Glossar 1 Walter Gehring: Schweizer Entwicklungsbio- loge (1939–2014), der sich mit der Erforschung der Gene, die in der Entwicklung der Frucht- fliege Drosophila eine Rolle spielen, beschäf- tigte. Neben den hier beschriebenen Ent- deckungen war er auch an der Erforschung der homöotischen Gene mitbeteiligt. 2 Genom: So bezeichnet man die Gesamtheit aller Gene eines Organismus. Aufgaben W 1 So wie das Augen-Master-Gen, das du hier kennengelernt hast, sind auch manche homöotischen Gene konserviert, das heißt man findet fast identische Gene bei höchst unterschiedlichen Arten. Lies auf S. 55 über die homöotischen Gene nach. Erkläre die Funktion dieser Gene. W 2 Das beschriebene Experiment wurde 1995 im Wissenschaftsmagazin Science unter dem Titel „Induction of ectopic eyes by tar- geted expression of the eyless gene in Droso- phila veröffentlicht. Recherchiere im Internet welche Forscherinnen und Forscher außer Walter Gehring noch an der Studie beteiligt waren. Basiskonzept Variabilität, Verwandtschaft, Geschich- te und Evolution: Gene, die in sehr unterschiedlichen Organismen dieselbe Funk- tion erfüllen, wie zB das hier beschriebene Augen-Master-Gen in Mäusen und Frucht- fliegen, nennt man homolog. Ihre Funktion blieb seit der gemeinsamen Abstammung dieser Arten konserviert und besteht daher seit vielen Millionen Jahren. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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