am Puls Biologie 6, Schulbuch
29 Nervensystem Blick in die Forschung Was schmeckt? bitter sauer salzig süß Abb.26: Hänigs veraltete Zungenkarte , mit den Sinnesberei- chen für bitter, sauer, salzig und süß. Vielleicht hast du irgendwann von einer „Zungenkarte“ gehört. Im Jahr 1901 hat der deutsche Physiologe David Hänig einen Versuch gemacht, den über ein Jahrhundert lang tausende Schulkinder wiederholen mussten: Wattestäbchen mit süßen, sauren, salzigen oder bitteren Lösun- gen werden auf bestimmte Bereiche der Zunge getupft. Hänig fand so Bereiche, wo die Zunge für diese Geschmacksrichtung empfindlich ist, und erstellte die bekannte Karte der Zunge. Heute weiß man, dass diese Zungenkarte nicht der Realität entspricht. Spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Verteilung der Sinnesbereiche nicht so klar ist. Doch woher kommt dieser Fehler, und wie ist es wirklich? Das Problem war, dass Hänig seine Karte als Linienzeichnung präsentierte ( k Abb. 26). Er wusste wohl, dass die gesamte Zunge für alle Geschmacksqualitäten empfindlich ist, aber die Empfindlich- keit variiert. Hänig stellte also dar, wo die Zunge besonders empfänglich für süß, sauer, salzig und bitter ist. Als allerdings die Zeichnung mehr und mehr Eingang in die Lehr- und Schul- bücher fand, blieb die gesamte Wahrheit auf der Strecke: So mussten Schulkinder hundert Jahre lernen, dass die Zunge nur in bestimmten Bereichen gewisse Geschmäcker empfin- den kann. Zu diesen vielleicht bekanntesten Missverständnis der Sinnes- physiologie kommt noch ein weiterer Fehler: Hänig untersuch- te die Zunge auf die vier genannten Geschmacksrichtungen, und schrieb, dass die Zunge nur diese (und nicht mehr) unter- scheiden kann – die wahre Geschmacksvielfalt ergibt sich aus den Gerüchen der Speisen. Diese Erkenntnis kann jeder bestä- tigen, der mit stark verstopfter Nase isst: Viel schmeckt man hier nicht. Dennoch hatte Hänig etwas übersehen. Bereits 1909 veröffent- lichte der japanische Chemiker Kikunae Ikeda eine Arbeit über eine fünfte Geschmacksrichtung, die er anhand von Versuchen mit einer japanischen Suppenwürze (Dashi) gefunden hatte: Es handelt sich um den würzig-pikanten Geschmack, der als Umami beschrieben wurde. Der entsprechende Rezeptor rea- giert auf das Aminosäuresalz Glutamat (was aus diesem Grund auch als Geschmacksverstärker verbreitet ist). Trotz Ikedas Publikation blieb diese Erkenntnis weitgehend unbe- kannt, was zum Teil sicher daran lag, dass Ikeda seine Arbeit auf Japanisch veröffentlichte. Ein anderer Grund ist, dass die Zunge eine sehr hohe Reizschwelle für Umami hat. Erst seit 1980 wurde der „fünfte Geschmack“ nach und nach Thema der Forschung. Erst 2002 wurde der entsprechende Rezeptor und die dazugehörigen Gene nachgewiesen (Lindemann et al., 2002). Und das ist es? Mitnichten! Seit wenigen Jahren wird die Existenz einer sechsten Geschmacksqualität diskutiert – fettig. Ob es sich dabei tatsächlich um einen primären Geschmack handelt, ist zurzeit Gegenstand der Forschung (Keast & Costanzo, 2015). süß salzig sauer bitter umami Abb.27: Die Empfindlichkeit für verschiedene Geschmacksqualitäten ist nicht auf bestimmte Bereiche der Zunge beschränkt. Stattdessen finden sich für jeden Geschmack auf der gesamten Oberfläche entsprechende Rezeptoren, allerdings in unter- schiedlicher Dichte. Aufgaben E 1 Stelle den Versuch von Hänig nach. Versuch zuerst, seine Hypothese zu bestäti- gen, und dann zu widerlegen. Überlege, in- wieweit du den Versuch in beiden Fällen un- terschiedlich planen und durchführen musst. S 2 Welche Erkenntnisse über die Arbeitsweise der Naturwissenschaften kannst du aus diesem Text ziehen? S 3 Diskutiere im Hinblick auf den obigen Text, in wie weit man Wissenschaft trauen kann und soll. Literatur: Hänig, D. P.: Zur Psychophysik des Geschmackssinnes. Engelmann Vlg. 1901. Ikeda, K.: Shin chomiryo ni tsuite [New seasoning]. Tokyo Kagaku Kaishi , 1909, Jg. 30, Nr. 8, S. 820–836. [Japanisch] Lindemann, B.; Ogiwara, Y.; Ninomiya, Y.: The discovery of umami. In: Chemical senses. 2002, Jg. 27, Nr. 9, S. 843–844. Keast, R. S. J.; Costanzo, A.: Is fat the sixth taste primary? Evidence and implications. In: Flavour. 2015, Jg. 4, Nr. 1, S. 5. Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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