Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

83 Werner Kofler: Lernprozesse Ich habe gelernt zu sprechen: ich habe gelernt, schön zu sprechen und nach der schrift. (so schön hätte ich gesprochen – sprechen gekonnt, „ja wie machen sie das“, haben die anderen frauen, die anderen mütter ge- fragt.) ich habe gelernt zu folgen, „ein kind hat zum folgen“. ich habe gefolgt, aber es ist mir im grunde ver- hasst gewesen, zu folgen. ich habe gelernt, mein und dein zu unterscheiden: nichtsdestotrotz habe ich hin und wieder gestohlen. ich habe gelernt, die zehn gebo- te zu halten, die sieben todsünden zu meiden […], die drei goldenen t des sports (technik, taktik, training) zu beachten. ich habe gelernt zu grüßen („laut und deut- lich“: ‚sgott frau longin, ‚sgott onkel mack, ‚sgott tante wetti, ‚sgott herr poglitsch, ‚sgott frau petamaia, ‚sgott fräuln dora, ‚sgott onkel rudi, ‚sgott!) ich habe gelernt, die hand zu geben und einen diener zu machen, „gib die hand und mach schön einen diener“, hat die mutti gesagt, und ich habe die hand gegeben und tief den kopf gebeugt. ich habe gelernt, einkaufen zu gehen, schnell einkaufen zu gehen. (ich bin schnell zum krie- Amy Chua: Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte Was meine Töchter Sophia und Louisa zum Beispiel niemals durften, war: - bei Freundinnen übernachten - Kinderpartys besuchen - im Schultheater mitspielen - sich beklagen, dass sie nicht im Schultheater mitspie- len dürfen - fernsehen oder Computerspiele spielen - sich ihre Freizeitaktivitäten selbst aussuchen - eine schlechtere als die Bestnote bekommen - nicht in jedem Fach, außer Turnen undTheater, Klas- senbeste sein - ein anderes Instrument spielen als Klavier oder Geige – nicht Klavier oder Geige spielen. […] [Ich bin überzeugt,] dass 1. Hausaufgaben grundsätz- lich an erster Stelle stehen, 2. ein A minus eine schlech- te Note ist, 3. [meine] Kinder in Mathe den Mitschü- lern immer um zwei Jahre voraus sein müssen, 4. man die Kinder nie öffentlich loben darf, 5. man im Fall ei- ner Meinungsverschiedenheit zwischen dem eigenen Kind und einem Lehrer oder Trainer immer die Partei des Lehrers oder Trainers ergreifen muss, 6. die einzi- gen Freizeitbeschäftigungen, die man den Kindern er- lauben sollte, solche sind, die ihnen am Ende eine Me- daille eintragen, und diese Medaille aus Gold sein muss. […] Zum Beispiel wird ein Kind, das ein A minus nach Hause bringt, von westlichen Eltern meistens gelobt. Die chinesische Mutter hingegen ringt vor Entsetzen nach Luft und will wissen, was schiefgegangen ist. Kommt ein Kind mit der Note B nach Hause, werden manche westlichen Eltern das Kind immer noch loben. Andere westliche Eltern setzen sich mit dem Kind hin und äußern zwar Missbilligung, achten dabei aber dar- auf, das Kind nicht zu verunsichern oder ihm das Ge- fühl zu geben, es sei unzulänglich, und ganz bestimmt bitsch gegangen. ich bin schnell zum pfeifer gegangen, ich bin schnell zum kröpfl gegangen, ich bin schnell zum putz gegangen. ich habe noch einmal zum krie- bitsch gehn müssen, weil ich den zettel vergessen habe.) ich habe gelernt, mich nicht „ausfratscheln zu lassen“, „ich darf mich nicht ausfratscheln lassen“, hab ich zu frau jarisch, zur friseurin, auf ihre neugierigkin- dertümlichen fragen hin gesagt, „die mutti hat gesagt ich darf mich nicht ausfratscheln lassen!“ (überhaupt sind die jarisch „jo so mißginstige leite“ gewesen, durch und durch mißginstige leite sind die jarisch ge- wesen.) (ich habe gelernt / die menschen einzuteilen in rote und schwarze / gute kundschaftn und schlechte / brave kirchengeher und laxe / regelmäßige kommu- niongänger und seltene /feine leute und gesindel / beim geld aber / ist mir beigebracht worden / sei es egal / von wem es komme; / es sei von allen, / roten und schwarzen / guten kundschaften und schlechten / braven kirchengehern und laxen / regelmäßigen kom- muniongehern und seltenen / feinen leuten und vom gesindel / gleichermaßen willkommen.) sagen sie ihm nicht, dass es „dumm“, „wertlos“ oder „eine Schande“ sei. […] Brächte ein chinesisches Kind die Note B nach Hause, was nie passiert –, käme es erst mal zu einem schreien- den, Haare raufenden elterlichen Donnerwetter. Da- raufhin würde die am Boden zerstörte chinesische Mutter Dutzende, vielleicht Hunderte Prüfungsaufga- ben beschaffen und mit ihrem Kind so lange pauken, bis es für ein A reicht. Chinesische Eltern fordern erst- klassige Noten, weil sie überzeugt sind, dass ihr Kind dazu fähig ist. Schneidet ihr Kind nicht erstklassig ab, gehen die chinesischen Eltern davon aus, dass das Kind sich nicht genug angestrengt hat. Deshalb besteht die Antwort auf ungenügende Leistungen immer darin, das Kind niederzumachen, zu bestrafen, zu be- schämen. […] Deshalb glauben chinesische Eltern, dass sie wissen, was für ihre Kinder das Beste ist, und setzen sich folglich über sämtliche Wünsche und Vor- lieben ihrer Kinder hinweg. Deshalb dürfen chinesi- sche Töchter in der Highschool keinen Freund haben und chinesische Kinder nicht ins Ferienlager, und kein chinesisches Kind würde es jemals wagen, seiner Mut- ter zu verkünden: „Ich darf im Schultheater mitspie- len! Ich muss jetzt nach der Schule von drei bis sieben zur Probe, und am Wochenende musst du mich rum- fahren!“ Gnade Gott jedem chinesischen Kind, das auf solche Ideen käme. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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