Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

SprAChrAuM 10 Erziehung 82 erziehung Die meisten Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Amy Chua, Amerikanerin chinesischer Abstammung, ist überzeugt, dass dieses Beste für die Kinder der Erfolg ist. Chua möchte, dass ihre beiden Töchter als Musikerinnen Erfolg haben. Dafür wendet sie alle Mittel an, bedroht ihre Töchter, besticht und erpresst sie. yc45ig SprAChrAuM 10 Martina Leibovici-Mühlberger: Ein Appell an die besonnenen Kräfte Josef ist 13 Jahre alt und verweigert die Schule, Markus, acht, boykottiert den Gang auf die Toilette. Gregor, 14, hat seiner Mutter eine Schere in den Oberarm gerammt, weil sie ihm das Spielen am Computer verbieten wollte. Sie alle haben in den letzten Jahren auf der Couch der Psychologin und Ärztin Martina Leibovici-Mühlberger Platz genommen. Laut Leibovici-Mühlberger keine Ein- zelfälle, sondern Resultat einer Gesellschaft, welche die Kinder als Einkommensfaktor und Konsumenten ent- deckt hat, und einer Erziehung, welche nicht mehr die Bedürfnisse der Kinder erfüllt, sondern in erster Linie ihre Wünsche, und die Angst davor hat, die Kinder an- zuleiten und auch „Nein“ zu sagen. Ihre Streitschrift „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden“, in dem sie Fälle wie die genannten analysiert, endet mit einem Appell an Eltern und Erziehende: Verfallt nicht in nostalgischen Romantizismus oder aber zukunftsängstlichen Katastrophismus! Es war noch nie für alle gut, aber es könnte werden. Über- nehmt Verantwortung! Reflektiert eure Rolle und er- füllt eure elterlichen Pflichten. Versucht nicht, das alte Gehorsamsgebot früherer Generationen neu zu eta- blieren, das kann uns auch nicht weiterhelfen. Wir ha- ben es Gott sei Dank selbst demontiert, denn unser el- terlicher Auftrag ist es nicht mehr, Untertanen zu er- ziehen, sondern Menschen zu begleiten, die auf die Fragen des „Wie unserer Zukunft“ Antworten geben werden müssen. Vergesst nicht, dass diese Fragen im- mer auch eine ethische Komponente haben. Die richti- gen Antworten auf diese Art von Fragen können nur selbstbewusst liebesfähige, in sich ruhende Menschen finden und nicht solche, die auf die Begrenzung ihres Egos bloß mit Angst, Hinterhältigkeit oder Aggression reagieren können, die nie in die zweite Reihe zurück- treten wollen und die keine Demut kennen. Demut, die entsteht, wenn man das große Ganze versteht und ach- tet. „Erzieht uns endlich!“, lautet der Appell der tyranni- schen, verhaltensauffälligen Kinder, den sie dieser El- terngeneration und Gesellschaft täglich auf unter- schiedlichste Weise ins Gesicht schreien. Dieses „Er- zieht uns endlich!“ ist auch ein Appell an die Elternge- neration der globalen Postmoderne, endlich selbst er- wachsen zu werden. Denn mit dem „Kindsein“ sind jetzt die Kinder dran! Gebt Kindern also, was sie wirk- lich brauchen, und drückt euch nicht davor, sie zu er- ziehen. Kinder brauchen sorgsam und respektvoll ge- setzte Grenzen. Genauso wie sie Eltern brauchen, die wirklich für sie da sind. Vergesst nicht: Beziehung kann man nicht kaufen, man muss sie leben in vielen tausenden kleinen Momenten. Nicht im Geschenke- haufen unter dem Christbaum, nicht im großzügigen Taschengeld, nicht im mühsam erwirtschafteten Lu- xusgut aus der Technikkiste der Unterhaltungsin- dustrie oder in endlosem Online-Shopping werdet ihr Beziehung finden können. Es ist der kleine unspekta- kuläre Moment, das gemeinsam Geteilte und Erlebte, das Beziehung begründet. Die Alltagsrituale beim Zu- bettgehen, das gemeinsame Essen, das Gespräch über Alltägliches genauso wie über alles, was Kinder be- rührt, beängstigt, verwirrt. Der Spaziergang im Wald, das Aufstauen eines Bachs, das erste Fußballspiel, die endlosen Versuche, bis der selbst gebastelte Drache endlich am Himmel steht – dort wächst Beziehung, dort wird das Fundament von Bindung, Zugehörig- keit, Vertrauen, Zuverlässigkeit und wechselseitiger Verantwortlichkeit gelegt. Nicht nur als Generationen- vertrag zwischen Eltern und Kindern, sondern auch als Vertrag mit der Welt, als ethisches Fundament, wie man mit dieser Welt sorgsam umgeht. Erfüllt also nicht die Wünsche eurer Kinder, sondern in erster Linie ihre Bedürfnisse! Die sind ganz einfach zu ergründen. So kompliziert sind wir als Spezies nicht. Ein Smartphone oder Designerklamotten, ein Schokoriegel um Mitternacht oder irgendein anderer unbedingter Drang, etwas zu besitzen oder partout zu brauchen, ist kein Bedürfnis. Das sind höchstens so- ziale Insignien oder Ausdruck eines Selbstmanage- mentmangels. Die Bedürfnisse von Kindern sind ganz anderer Natur und hören sich vergleichsweise unspek- takulär an: Nähe, Geborgenheit, Orientierung und lie- bevolle Führung, sich jemandem anvertrauen können, Konstanz, Konsequenz, Zuverlässigkeit, genügend zum Essen, damit dieser junge Körper wachsen kann, und Wärme, wenn es rundum kalt ist, Akzeptanz und als der gesehen werden, der man ist. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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