Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining
SprAChrAuM 8 Ungehorsam, Entrüstung, Widerstand 68 Lesen Sie das Gedicht „Niemand sucht aus“ von Gioconda Belli. Untersuchen Sie zunächst die äußere Gestaltung (Zahl der Verse und Strophen, Reim, Klanggestalt, Sprecher/ in und Adressat/in, lyrische Situation) des Gedichts. Halten Sie Ihre Untersuchungsergebnisse stichwortartig fest. Geben Sie den Gedichtinhalt in Ihren eigenen Worten wieder. a b Interpretationshypothesen entwickeln 8.1 Gioconda Belli: Niemand sucht aus Man sucht sich das Land seiner Geburt nicht aus, und liebt doch das Land, wo man geboren wurde. Man sucht sich die Zeit nicht aus, in der man die Welt betritt, aber muss Spuren in seiner Zeit hinterlassen. Seiner Verantwortung kann sich niemand entziehen. Niemand kann seine Augen verschließen, nicht seine Ohren, stumm werden und sich die Hände abschneiden. Es ist die Pflicht von allen, zu lieben, ein Leben zu leben, ein Ziel zu erreichen. Wir suchen den Zeitpunkt nicht aus, zu dem wir die Welt betreten, aber gestalten können wir diese Welt, worin das Samenkorn wächst, das wir in uns tragen. 2 4 6 8 10 12 Eduardo Galeano: Das Recht zum Träumen Wenn wir auch nicht die Welt, wie sie sein wird, erraten können, so können wir uns doch immerhin die Welt vorstellen, wie wir sie wollen. Das Recht zum Träumen kommt nicht vor unter den 30Menschenrechten, die die UNO Ende 1948 ausgerufen hat. Aber wenn dieses Recht nicht wäre, die anderen Rechte wären schon an Austrocknung zu Grunde gegangen. Fallen wir also für einenMoment ins Delirium. DieWelt – jetzt auf demKopf – fällt auf die Füße: Auf den Straßen springen die Hunde über Automobile. In der Luft findet sich kein Gift von Maschinen. Und es gibt keine Ver- schmutzung mehr als nur die, die ausströmt von den Ängsten und Leidenschaften der Menschen. Die Leute werden nicht mehr vom Auto rasend ge- macht, nicht mehr vom Computer programmiert, nicht mehr vom Supermarkt aufgekauft und nicht mehr vom Fernseher angeglotzt. Das Fernsehgerät ist nicht mehr das wichtigste Famili- enmitglied und wird behandelt wie das Bügeleisen oder die Waschmaschine. Die Leute arbeiten, um zu leben, anstatt zu leben, um zu arbeiten. In keinem Land werden mehr junge Männer verhaftet, die den Militärdienst verweigern; höchstens noch sol- che, die ihn leisten wollen. Die Ökonomen nennen den Standard des Konsums nicht mehr „Lebensstandard“ und die Menge der Güter nicht mehr „Lebensqualität“. Die Köche werden nicht mehr glauben, dass die Lan- gusten entzückt sind, lebend gekocht zu werden. Die Historiker werden nicht mehr glauben, dass Völ- ker davon entzückt sind, erobert zu werden. Die Politiker werden nicht mehr glauben, dass es den Armen gefällt, auf Versprechungen herumzukauen. Die Welt wird nicht mehr im Krieg sein gegen die Ar- men, sondern gegen die Armut; und die Rüstungsin- dustrie wird für immer den Konkurs anmelden müs- sen. Keiner wird mehr Hungers sterben, weil auch keiner mehr an Verstopfung stirbt. Die Straßenkinder wer- den nicht mehr wie Abfall behandelt, weil es auch kei- ne reichen Kinder mehr gibt. Bildung wird kein Privi- leg derer mehr sein, die sie bezahlen können. […] Die Kirche wird ein elftes Gebot ausrufen, das der Herr vergessen hatte: „Liebe die Natur, denn Du bist ein Teil von ihr!“ Alle Gefangenen werden feiern, und es wird keine Nacht geben, die man nicht lebte, als sei es die letzte, und keinen Tag, der nicht gelebt wurde, als sei es der erste. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 Textkompetenz Interpretationskompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv
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