Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

67 Werner Wintersteiner: Empört euch! „Entrüstet Euch!“ ist ein Appell an die Jugend, doch nicht alles hinzunehmen. Wir müssen uns, so Hessel, über den Abbau des Sozialstaates, über die brutale Be- handlung von MigrantInnen, über die Konzentration und Monopolisierung der Medien empören und dage- gen auftreten. Hessel möchte das Widerstandspotenzi- al der Menschen wecken und verhindern, dass es in dumpfem Ärger verpufft, von Populisten ausgenützt wird oder zu Resignation verkommt. […] „Entrüstet Euch!“ hat (allerdings nur im Deutschen) auch eine zweite Bedeutung: ent-rüsten meint gewaltfreien Wi- derstand. Auch das ist das Credo des 93-Jährigen, der sich ganz entschieden von „revolutionärer Gewalt“ distanziert […]. Hessels Appell gilt nicht nur für Frankreich. Gerade auch bei uns müssen wir erleben, dass Skandale, Machtmissbrauch und Ungerechtigkeit zwar oft nicht Wie soll ich diesen Aufruf zur Empörung beschließen? Indem ich noch einmal daran erinnere, was wir, die Veteranen der Résistance aus den Jahren 1940 bis 1945, am 8. März 2004 anlässlich des 60. Jahrestages der Ver- kündung des Programms des Nationalen ‚Wider- standsrates sagten: „Der Nazismus ist besiegt worden dank dem Opfer unserer Brüder und Schwestern in der Résistance und der im Kampf gegen die faschisti- sche Barbarei verbündeten Nationen. Doch die Bedro- hung ist nicht vollständig gebannt, und unser Zorn über die Ungerechtigkeit ist nicht gewichen.“ Nein, die Bedrohung ist nicht ganz gebannt. Und so gutgeheißen werden, aber dass Gleichgültigkeit vor- herrscht. „Das war schon immer so“, „Da kann man halt nichts machen“, heißen die Standardausreden. „Wer sich so verhält“, so Hessel, „verliert eine der we- sentlichen und unverzichtbaren Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit zur Empö- rung und das Engagement, das daraus erwächst.“ Eine weitere Variante der Gleichgültigkeit tarnt sich als politischer Realismus. Wenn man jemanden auf ei- nen Missstand aufmerksam macht, bekommt man oft als Antwort: „Aber was erwartest Du denn? Mach Dir doch keine Illusionen über die!“ Was so vernünftig klingt, ist aber in Wirklichkeit Abwiegelei. Wir brau- chen weniger „einfühlende Vernunft“ in untragbare Zustände und dafür mehr Entrüstung und Empörung. Denn, wie Stéphane Hessel abschließend feststellt: „Schöpfung heißt Widerstand leisten! Widerstand leisten ist ein schöpferischer Akt!“ rufen wir weiterhin auf zu einem wirklichen, friedli- chen Aufstand gegen die Massenkommunikationsmit- tel, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächs- ten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnis- schwund und die maßlose Konkurrenz aller gegen alle. Den Männern und Frauen, die das 21. Jahrhundert ge- stalten werden, rufe ich aus ganzem Herzen und in voller Überzeugung zu: „Neues schaffen heißt Wider- stand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaf- fen.“ 2 4 6 8 10 12 14 16 74 76 78 80 82 84 18 20 22 24 26 28 30 32 34 86 88 90 92 94 96 Erich Fried: Die Abnehmer Einer nimmt uns das Denken ab es genügt seine Schriften zu lesen und manchmal dabei zu nicken Einer nimmt uns das Fühlen ab Seine Gedichte erhalten Preise und werden häufig zitiert Einer nimmt uns die großen Entscheidungen ab Über Krieg und Frieden Wir wählen ihn immer wieder Wir müssen nur auf zehn bis zwölf Namen schwören und manchmal dabei zu nicken Das ganze Leben nehmen sie uns dann ab Peter Turrini: Das Nein Das Nein, das ich endlich sagen will ist hundertmal gedacht still formuliert nie ausgesprochen. Es brennt mir im Magen Nimmt mir den Atem Wird zwischen den Zähnen zermalmt Und verlässt Als freundliches Ja Meinen Mund. 2 4 2 4 6 8 6 8 10 10 12 14 16 Textkompetenz Interpretationskompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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