Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

SprAChrAuM 8 Ungehorsam, Entrüstung, Widerstand 66 ungehorsam, entrüstung, Widerstand ei7p7f Sprachraum 8 Stéphane Hessel: Empört euch! Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet? Es ist nicht immer leicht, zwischen all den Einflüssen zu unter- scheiden, denen wir ausgesetzt sind. […] Die Welt ist groß, wir spüren die globalen Abhängigkeiten, leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie. Um wahrzunehmen, dass es in dieser Welt auch unerträg- lich zugeht, muss man genau hinsehen, muss man su- chen. Ich sage den Jungen: Wenn ihr sucht, werdet ihr finden. „Ohne mich“ ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann. Den „Ohne mich“-Typen ist eines der grundlegenden Merkmale des Menschen ab- handen gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement. Zwei große neue Menschheitsaufgaben sind für jeder- mann erkennbar: 1. Die weit geöffnete und noch immer weiter sich öff- nende Schere zwischen ganz arm und ganz reich. Das ist eine Spezialität des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Ärmsten der Welt verdienen heute kaum zwei Dollar am Tag. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kluft sich weiter vertieft. Allein schon dies heißt, sich zu en- gagieren. 2. Die Menschenrechte und der Zustand unseres Pla- neten. […] Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging es ja da- rum, die Menschheit dauerhaft vom Gespenst des Totalitarismus zu befreien. Dazu musste erreicht wer- den, dass die UNO-Mitgliedstaaten sich zur Achtung dieser universellen Rechte verpflichteten – ein Weg, um das Argument der vollen Souveränität auszuhe- beln, auf das sich ein Staat berufen konnte, der sich auf seinem Territorium Verbrechen gegen die Menschlich- keit leistete – siehe Hitler, der als Herr im Hause über Völkermord entschied. Ohne den weltweiten Abscheu vor Nationalsozialismus, Faschismus, Totalitarismus […] wäre diese universelle Erklärung in dieser Form kaum zustande gekommen. […] Ich möchte aus der »Allgemeinen Erklärung der Men- schenrechte« [zum Beispiel] den Artikel 22 zitieren: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch inner- staatliche Maßnahmen und internationale Zusam- menarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organi- sation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwick- lung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“ Und auch wenn diese Erklärung, da sie nicht völkerrecht- lich verbindlich geworden ist, bloß deklaratorischen Charakter hat, ist sie dennoch seit 1948 nicht ohne Wirkung geblieben. Kolonialvölker haben sich in ih- rem Unabhängigkeitskampf auf sie berufen, und sie hat den Freiheitskämpfern Mut gemacht. […] Den jungen Menschen sage ich: Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt. Ihr werdet auf konkrete Situationen stoßen, die euch veranlassen, euch gemeinsammit anderen zu en- gagieren. Suchet, und ihr werdet finden! Ich wünsche jedem Einzelnen von euch ein eigenes Empörungsmo- tiv. Denn das ist kostbar. […] Das im Westen herrschende materialistische Maxi- mierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen. Wir müssen radikal mit dem Rausch des „Immer noch mehr“ brechen, in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorn angetreten haben. Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden. Denn uns drohen schwerste Gefahren, die dem Abenteuer Mensch auf einem für uns unbewohnbar werdenden Planeten ein Ende setzen könnten. […] 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 Mit einer Protestschrift gegen die Ungerechtigkeit in der Welt begeistert ein 93-Jähriger ganz Frankreich. Eine Million Mal hat sich das knapp 20-seitige Heft bereits verkauft. Der Titel: „Indignez-vous! - „Empört euch!“ Der Autor: Stéphane Hessel, ehemaliger Résistance-Kämpfer gegen die deutsche Besetzung Frankreichs im 2. Weltkrieg. Nach dem Krieg war Hessel als Diplomat maßgeblich an der Ausarbeitung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ beteiligt. Die Botschaft des Buches: „Findet euch nicht damit ab, dass die Welt so ist, wie sie ist.“ Nun ist das Werk auch auf Deutsch erschienen. Es hat zahlreiche Kommentare hervorgerufen. Überhaupt ist das Thema „Ungehorsam“ ein immer wiederkehrendes Motiv der Literatur. Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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