Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

57 dort akzeptieren, wo sie auch angemessen umgesetzt werden kann. Warum dürfen wir nicht so leben, wie wir wollen? Weil ein gutes Miteinander Regeln braucht und diese Regeln der Freiheit Grenzen setzen. Das ist auch gut so. Doch das geht auch ohne Dogmatismus, dafür mit einem Schuss mehr Pragmatismus und kon- struktiver Überzeugungskraft. (Salzburger Nachrichten, 30.7.2016) 80 82 84 86 Heinrich Heine: Lyrisches Intermezzo (1823) Sie saßen und tranken am Teetisch, Und sprachen von Liebe viel. Die Herren waren ästhetisch, Die Damen von zartem Gefühl. Die Liebe muß sein platonisch, Der dürre Hofrat sprach. Die Hofrätin lächelt ironisch, Und dennoch seufzet sie: Ach! Der Domherr öffnet den Mund weit: Die Liebe sei nicht zu roh, Sie schadet sonst der Gesundheit. Das Fräulein lispelt: Wieso? Die Gräfin spricht wehmütig: Die Liebe ist eine Passion! Und präsentieret gütig Die Tasse dem Herrn Baron. Am Tische war noch ein Plätzchen; Mein Liebchen, da hast du gefehlt. Du hättest so hübsch, mein Schätzchen, Von deiner Liebe erzählt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Natürlich: Hier und heute geht es um die Ennstalstraße. Aber in Wahrheit geht es hier und heute genauso um den Regenwald, umdas Ozonloch, umdenWalfang, um den Treibhauseffekt und um die Überdüngung in der Landwirtschaft, um die Abgase und den ganzen Rest. Es geht um alles in der Welt. Man muss den Menschen – und ich spreche von Herrn und Frau Österreicher, die mehr Sorgen um ihre Bau- sparverträge haben und dass ihnen ja keiner die Vor- fahrt wegnimmt –, in diese Köpfe, in denen ohnehin viel Platz ist, in diese Köpfe muss das hinein, dass es um alles in der Welt geht. Es geht nicht um die Ennstalstraße allein: „Denn“, so ar- gumentiert der Österreicher gern, „die Großglockner Hochalpenstraße hom´s a baut und mia lebn olle no!“ Nein, es muss Klarheit herrschen darüber, dass es nicht um Verhinderung von Einzelprojekten oder regionale Anliegen geht, nein, es geht immer um alles in der Welt. Und da sind wir angehalten, alle zur Verfügung stehen- den Kommunikationstechniken, die uns Werbung und PR vormachen, zu nutzen, um dieses Bewusstsein zu erreichen. Aufzuwecken mit allen Mitteln. Ohne Rück- sicht auf ideologische Hoppalas, die in den Reihen derer existieren mögen, die unter uns die Eifrigsten sind. Die Skrupellosigkeit kann man nicht mit der feinen Klinge besiegen. Ihr schlagt uns mit dem Holzhammer, wir schlagen zurück. Wenn es möglich war, die Menschen davon zu überzeugen, dass ihr eigener Geruch etwas ist, das man mit Sprays wegmachen muss und unter den Achseln so zu riechen hat, wie es die Unilever will, dann muss man doch zumindest erreichen können, dass den Menschen das Dragee-Keksi im Hals steckenbleibt, wenn der Fernsehsprecher in routinierter Distanziert- heit über 100 000e Tonnen Rohöl spricht, die in schöner Regelmäßigkeit ins Meer rinnen. Wir müssen errei- chen, um wieder auf die Achselsprays zurückzukom- men, dass wir nicht sagen: „Pfui Teufel, wir stinken alle und spritz, spritz, duft, duft, weg damit“, sondern wir müssen sagen: „Alle sprechen von Körpergeruch – ich habe ihn.“ Die Menschen müssen verstehen, dass es nicht gelang- weilte Arbeitslose oder Vertreter merkwürdiger Rand- gruppen sind, die sich anketten lassen, um die Ennstal- straße zu verhindern, sondern solche, die wissen, dass es um alles in der Welt geht. Und die Ennstalstraße ist eben ihre Front, an der sie kämpfen. Wir müssen vitales Interesse schaffen in den Köpfen derer, die nur an Fres- sen, Saufen und Große-Haufen-Scheißen denken; da- ran, ob sie ihren Opel Calibra 15 oder 20 cm tiefer legen lassen sollen oder ob der Hans Krankl wirklich der best- angezogene Mann imWohnpark Alt Erlaa war. Interesse, das Klarheit schafft, dass es ohne die Welt auch keinen Opel Calibra gibt und schon gar keinen Hans Krankl. Die Ennstalstraße ist umnichts harmloser als das Ozon- loch oder die Vernichtung des Regenwaldes, denn sie ist zwar vielleicht nur das Triangel im Orchester, das der Welt den Trauermarsch spielt, aber wenn das Triangel 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 Joesi Prokopetz: Der Plan Die folgende Rede wurde im Juni 1993 anlässlich der Besetzung des Baustellengeländes durch Hunderte Menschen gehalten, die den Bau einer Schnellstraße im Ennstal, der „Ennsnahen Trasse“, verhindern wollten. Die Trasse konnte schließlich – nach rund zwanzig Jahren juridischer und aktionistischer Arbeit – durch Umweltgruppen (Bauern, Naturschutzbund, WWF, Greenpeace, Global 2000) und viele „einfache“ Bürgerinnen und Bürger des Tales gestoppt werden. Textkompetenz Interpretationskompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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