Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

SprAChrAuM 7 Ich und die anderen 56 Ich und die anderen In einer Gesellschaft lebt jeder Einzelne notwendig immer auch mit anderen zusammen (im Staat ebenso wie am Teetisch). Es gilt dabei, eigene Interessen zu wahren und durchzusetzen, aber auch andere zu respektieren und vielleicht für sich zu gewinnen. Das Leben in der Gesellschaft ist so der Situation des Redners vergleichbar … b4yv43 SprAChrAuM 7 Manfred Perterer: Warum dürfen wir nicht so leben, wie wir wollen? Dogmatikermit erhobenemZeigefinger sagen uns, was wir tun und lassen sollen. Mit zunehmend ge- ringerem Erfolg. Der Kulturtheoretiker Robert Pfaller hat den Begriff der „maßlosen Mäßigung“ geprägt. Er bezieht sich auf den griechischen Philosophen Epikur (341 bis 271 v. Chr.), der gesagt hat, manmüsse mit der Mäßigung maßvoll umgehen, weil sie sonst zum Exzess wird. Die These Pfallers lautet sinngemäß: Unsere Gesell- schaft hat die Leichtigkeit des Seins verlernt, kann kaum noch genießen und sich nicht mehr richtig freuen. Alles wird ständig hinterfragt, jede positive Gemütsregung wird unter den Röntgenschirm der politischen Korrektheit gelegt. Verzicht und Trübsal sind Lebensmaximen geworden und jedes Durchbre- chen der asketischen Demarkationslinie wird mit schlechtem Gewissen bestraft. Die politischen Vertreter der maßlosen Mäßigung sind vomGlauben besessen, genau zu wissen, wie wir leben sollen. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit in Gesetze gegossenen Appellen an eingeimpften Wertvorstellungen überschüttet werden. Die Besser- wisser sagen uns nicht nur, wie wir leben sollen, sie schreiben es uns auch vor. Und sie sagen es uns or- dentlich hinein, wenn wir uns nicht daran halten. Notwendige Verbesserungen werden nicht positiv argumentiert, sondernmit negativen asketischen Ge- danken aufgeladen. Nehmen wir das Beispiel Mobilität. Wer auch nur ein vorläufiges Bekenntnis zum normalen Auto abgibt, wird als rücksichtslos abgestempelt und dem Shitstorm preisgegeben. Die Sorge um die Um- und Nachwelt ist berechtigt, aber der offen zur Schau ge- tragene Dogmatismus erreicht bei denMenschen das Gegenteil. Wie wäre es damit, den Spieß umzudrehen. Nicht zu sagen: Wenn ich einen Diesel fahre, bin ich ein schlechter Mensch. Sondern: E-Mobility ist cool und sexy, wer elektrisch fährt, ist vorn. Wir brauchen ei- nen Paradigmenwechsel, weg von der negativen Dar- stellung hin zur positiven. Das gilt vor allem für den öffentlichen Verkehr. Niemand wird zum Öffi-Fan, nur weil die Politik den Individualverkehr ver- dammt, verteuert und behindert. Bus und Tram müssen endlich so attraktiv gestaltet werden, dass jeder gern umsteigt. Ähnliches beobachten wir im Lebensmittelbereich. Wer gern Fleisch isst, dem wird ein schlechtes Ge- wissen gemacht. Er trägt Schuld am Leid von Rind und Schwein und an der Überfrachtung der Atmo- sphäre mit CO2. Mit der Tierschutzkeule wurde je- doch noch nie ein überzeugter Fleischesser umge- dreht. Wie wäre es damit, ihn von den Vorzügen ei- ner ausgewogenen Ernährung zu überzeugen? Die Grünen in Deutschland haben mit ihrem Plan, den Bürgern einen fleischlosen Tag pro Woche zu verordnen, Schiffbruch erlitten. Die Menschen fol- gen Verbotsappellen nicht. Diejenigen, die uns jeden Tag aufs Neue sagen, wie wir zu leben haben, wollen uns vieles austreiben: Öl- heizungen, Zigaretten, Fleisch, Bier mit Alkohol, schnelle Autos, Butter, Flugzeuge, Feuerwerke, Klei- dung aus Asien, das Häuschen im Grünen, Zweit- wohnungen, Barzahlen, Glühbirnen und vielesmehr. Der erhobene Zeigefinger wird von den Bürgern im- mer öfter mit einem anderen Finger beantwortet. Wir lassen uns gern von guten Politikern regieren. Wir lassen uns auch sagen, was gut für die Welt ist. Nur müssen wir zuerst davon überzeugt werden. Nur mit positiven Argumenten können wir ins Boot geholt werden. Wer Raucher als asoziale Elemente beschimpft, wird sie nicht vom Glimmstängel weg- bringen. Wer Häuslbauern den Eindruck vermittelt, sie seien rücksichtslose Bodenschmarotzer auf Kosten der Allgemeinheit, wird damit niemanden für eine Ge- nossenschaftswohnung begeistern. Das heißt nicht, dass man den TraumvomHäuschen imGrünen, den immerhin 75 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher haben, auchmit Steuergeld fördern soll, so wie dies viel zu üppig in Salzburg geschehen ist. Aber die Lebensform Einfamilienhaus sollten wir 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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