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SprAChrAuM 5 Wissenschaft und Verantwortung 40 Wissenschaft und Verantwortung Die ständige Erweiterung des menschlichen Wissens und Könnens in Technik, Wissenschaft und Forschung haben ohne Zweifel das Leben des Menschen in unzähligen Aspekten zum Positiven verändert. 7w52e3 SprAChrAuM 5 Doch wissenschaftliche Erkenntnisse können auch negative Auswirkungen haben: Gerade die Wissenschaft, die am tiefsten in die Strukturen der Welt eingedrungen ist, die Kernphysik, hat mit der Atombombe die totale Zerstörung der Welt und mit der Atomkraft deren globale Verseuchung möglich gemacht. Dichter/innen, Philosophen/Philosophinnen und die Wissenschaftler/innen selbst befassen sich deshalb schon seit langem mit der Frage der Verantwortung und der Grenzen der Wissenschaft. Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker (1962) Drei Physiker leben im Irrenhaus der Ärztin Mathilde von Zahnd: Johann Wilhelm Möbius, der behauptet, ihm erscheine der Geist König Salomos und zeige ihm das System aller möglichen Erfindungen, und zwei Kollegen, die sich für Isaac Newton und Albert Einstein halten. Doch nach und nach stellt sich heraus, dass keiner der drei wirklich verrückt ist. „Newton“ und „Einstein“ sind Agenten zweier Geheimdienste. Ihr Auftrag ist es, Möbius auszuspionieren, den sie für den genialsten Physiker der Gegenwart halten. Und tatsächlich hat Möbius eine Entdeckung gemacht, die in den falschen Händen zur Vernichtung der gesamten Menschheit führen könnte. Deshalb versteckt er sich im Irrenhaus und hat seine Forschungsergebnisse verbrannt. MÖBIUS: Es gibt Risiken, die man nie eingehen darf: der Untergang der Menschheit ist ein solches. Was die Welt mit den Waffen anrichtet, die sie schon besitzt, wissen wir, was sie mit jenen anrichten würde, die ich ermögliche, können wir uns denken. Dieser Einsicht habe ich mein Handeln untergeordnet. Ich war arm. Ich besaß eine Frau und drei Kinder. An der Universität winkte Ruhm, in der Industrie Geld. Beide Wege waren zu gefährlich. Ich hätte meine Arbeiten veröffentlichen müssen, der Umsturz unserer Wissenschaft und das Zusammenbrechen des wirtschaftlichen Gefüges wären die Folgen gewesen. Die Verantwortung zwang mir einen anderen Weg auf. Ich ließ meine akademische Karriere fahren, die Industrie fallen und überließ meine Familie ihrem Schicksal. Ich wählte die Narrenkappe. Ich gab vor, der König Salomo erscheine mir, und schon sperrte man mich in ein Irrenhaus. NEWTON: Das war doch keine Lösung! MÖBIUS: Die Vernunft forderte diesen Schritt. Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen. Wir wissen einige genau erfassbare Gesetze, einige Grundbeziehungen zwischen unbegreiflichen Erscheinungen, das ist alles, der gewaltige Rest bleibt Geheimnis, dem Verstande unzugänglich. Wir haben das Ende unseres Weges erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht soweit. Wir haben uns vorgekämpft, nun folgt uns niemand nach, wir sind ins Leere gestoßen. Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen. Es gibt keine andere Lösung, auch für euch nicht. […] Ihr müsst bei mir im Irrenhaus bleiben. NEWTON: Wir? MÖBIUS: Ihr beide. Schweigen. NEWTON: Möbius! Sie können von uns doch nicht verlangen, dass wir ewig – MÖBIUS: Meine einzige Chance, doch noch unentdeckt zu bleiben. Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff. […] Entweder bleiben wir im Irrenhaus, oder die Welt wird eines. Entweder löschen wir uns im Gedächtnis der Menschen aus, oder die Menschheit erlischt. Schweigen. NEWTON: Diese Anstalt. Diese schrecklichen Pfleger. Diese bucklige Ärztin! MÖBIUS: Nun? EINSTEIN: Man sperrt uns ein wie wilde Tiere! 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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