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33 András Szigetvari: Suche nach dem Index für Lebensqualität Das Bruttoinlandsprodukt als wichtigstes Glücks- und Wohlstandsmaß bekommt Konkurrenz Unfall auf derWiener Südosttangente. Zwei Fahrzeu- ge krachen in einer unübersichtlichen Kurve zusam- men. Ein Lenker wird leicht verletzt, die Rettung rückt aus. Ein Pkw ist demoliert, der zweite schrott- reif: Es ist großer Schaden entstanden. Aber es gibt auch eine andere Sicht auf das Geschehen: Das kaput- te Auto muss in der Werkstatt repariert werden. Der Rettungswagen braucht Sprit von der Tankstelle. Der Schrottplatz, am Ende auch ein Neuwagenhändler, freuen sich über einen neuen Kunden. Es mag zynisch klingen, aber Unfälle kreierenUmsät- ze und steigern damit die Wirtschaftsleistung eines Landes, als Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen. Das BIP ist nach wie vor die zentrale Messgröße für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes. Einer, der auszog, um diesen „BIP-Fetisch“ zu be- enden, ist der kahlköpfige Brite AndrewOswald. Wer seinen Worten lauscht, meint zunächst, es mit einem liebenswürdigen Esoteriker zu tun zu haben. Oswald sagt gern Sätze wie: „Das BIP ist überbewertet. Was wir messen müssen, ist Wohlbefinden, den Wert so- zialer Beziehungen und unseres Glücks.“ Vor ein paar Jahren wäre Oswald, der an der War- wick-University Ökonomie unterrichtet, als Spinner abgetan worden. Doch er findet inzwischenGehör. In Großbritannien hat Premier David Cameron seine Statistiker damit beauftragt, noch heuer einen Index zu entwickeln und abzufragen. Erstmals wird der Staat umfassend Wohlbefinden und Zufriedenheit seiner Bürger messen. Oswald sitzt in der Kommis- sion des Premiers. […] Aber was treibt die Politik so plötzlich an? Die Kritik am BIP ist nicht neu. In aka- demischen Kreisen wird seit Jahrzehnten bemängelt, dass Wachstum wenig über Wohlstandsverteilung, Glück und Zufriedenheit aussagt. Umweltprobleme blendet die Kennziffer völlig aus. Wer einen Wald im Amazonas abholzt, befeuert das BIP. […] Dass die Politik jetzt fieberhaft nach alternativenMo- dellen sucht, hat für Marleen Desmedt, führende Eu- rostat-Beraterin, zwei Gründe: Die Krise und Joseph Stiglitz. Die astronomischen Wachstumszahlen zwi- schen 2002 und 2007 und der darauffolgende Ab- sturz, hätten gezeigt, dass das BIP allein kein verläs- sliches Kriterium sein kann. Zu diesem Ergebnis kam auch die von Frankreichs Präsident Nicolas Sar- kozy eingesetzte Kommission unter der Führung von Stiglitz. Der Stiglitz-Report empfiehlt, stärker auf Kriterien wie das verfügbare Einkommen der Haushalte abzustellen und den Wert sozialer Netze zu berücksichtigen. […] National hat das statistische Zentralamt Insee in Pa- ris erste Stiglitz-Indikatoren aufgegriffen. Insee hat Einkommen, Sparquote und Konsum der Haushalte erhoben und die Daten auf die BIP-Werte hochge- rechnet. […] Das reichste Fünftel der französischen Gesellschaft hat ein fünfmal höheres Einkommen als die ärmsten 20 Prozent. Wird der Wert der Gesund- heits- und Bildungsleistungen einbezogen, reduzie- ren sich die Unterschiede auf den Faktor drei. Aber wohin geht die weitere Reise, steht am Ende wirklich ein Weltglücksindikator? Hier gehen die Meinungen auseinander. Andrew Oswald ist über- zeugt: „In fünf bis zehn Jahren werden sich die Schlagzeilen in den britischen Nachrichten nicht ums BIP drehen. Die Meldung des Tages wird sein, dass unser Wohlbefinden rückläufig ist.“ Bei Euro- stat [= Statistisches Amt der EU] ist man vorsichti- ger. Ziel ist es, noch heuer acht Parameter zu Wohl- befinden (etwa Lebensbedingungen, Sicherheitsge- fühl) zu finden, die künftig neben dem BIP stehen sollen. Eurostat will künftig aber auch neue Frageka- taloge über die sozialenNetze entwickeln. Die Statis- tiker könnten bald nach der Zahl der Freunde, Fami- lienbindungen und der Betätigung in Vereinen fra- gen. So gesehen, wird sich dann dieMitgliedschaft in einem Schachklub doppelt auszahlen. (Der Standard, 18.02.2011) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 Konsum ist nie die alleinige Ursache von Glück. Er kann dazu beitragen, sofern man positive Erlebnisse sammelt. Und zwei Dinge beachtet, wie Psychologe Howell in späteren Untersuchungen herausfand. Zumeinen sollteman tunlichst nicht zu jenemDrittel der Bevölkerung gehören, das eine extremmaterialis- tische Persönlichkeitsstruktur aufweist. Diese Men- schen können kaufen, was sie wollen – glücklich macht sie das nie. Zum anderen sollte man nie versu- chen, andere beeindrucken zu wollen. Konsumglück entsteht allenfalls, wenn man etwas um seiner selbst willen tut. Die schönstenTheaterabende, Restaurant- besuche und Urlaubsreisen verpuffen, wenn man bloß angeben will. Dann kann man sich ebenso gut Schuhe kaufen. (Die Zeit, 17.12.2015) 82 84 86 88 90 92 94 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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