Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

23 Als der entlaufene oder verlorene Sohn, dem die Ge- schichte ihren Titel verdankt, nach und nach merkte, dass es mit seinen Aktien in der Tat verhältnismäßig recht, sehr übel stehe, trat er den Rückzug an, was zweifellos ziemlich vernünftig von ihm war. Der Da- heimgebliebene würde auch ganz gerne einmal den Rückzug angetreten haben, das Vergnügen war ihm aber durchaus nicht gegönnt, und zwar ganz einfach vermutlich deshalb nicht, weil er nicht fortgegangen war, wie bereits bekannt ist. Wenn vermutet werden darf, der Fortgelaufene habe das Fortlaufen ernstlich bereut, so wird nicht weniger vermutet oder angenommen werden dürfen, dass der Daheimgebliebene sein Daheimbleiben tiefer bereute, als er dachte. Wenn der verlorne Sohn innig wünschte, dass er lieber nie verloren gegangen wäre, so wünschte seinerseits der andere, nämlich der, der niemals wegge- gangen war, durchaus nicht weniger innig oder viel- leicht noch inniger, dass er doch lieber nicht beständig zu Hause geblieben, sondern lieber tüchtig fortgelau- fen und verloren gegangen wäre, oder er sich auch ganz gerne einmal gehörig würde haben heimfinden wollen. Da der verlorene Sohn, nachdem er längst verloren ge- glaubt worden war, Abbild vollkommener Herabge- kommenheit, zerlumpt und abgezehrt, eines Abends plötzlich frisch wieder auftauchte, stand gewisser- maßen Totes wieder lebendig auf, weshalb ihm alle Liebe naturgemäß wie wild entgegenstürzte. Der wackere Zuhausegebliebene hätte auch ganz gern einmal tüchtig tot und hernach wieder tüchtig leben- dig sein mögen, um erleben zu dürfen, dass ihm alle Liebe naturgemäß wie wild entgegenkäme. Die Freude über das unerwartete Wiederfinden und das Entzücken über ein so schönes und ernstes Ereig- nis zündeten und loderten hell und hoch wie eine Feu- ersbrunst im Haus herum, dessen Bewohner, Knechte, Mägde sich fast wie in den Himmel gehoben fühlten. Der Heimgekehrte lag der Länge nach am Boden, von wo ihn der Vater aufgehoben haben würde, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. Der alte Mann weinte so sehr und war so schwach, dass man ihn stützen musste. Selige Tränen. In allen Augen war ein Schimmer, in al- len Stimmen ein Zittern. Von so mannigfaltigem An- teil, so aufrichtig liebendem Verstehen und Verzeihen umflossen, musste der Fehlbare beinahe wie heilig er- klärt erscheinen. Schuldig sein hieß zu solch schöner Stunde nichts anderes als liebenswürdig sein. Alles re- dete, lächelte, winkte hier und dort dicht durcheinan- der, derart, dass nur glückliche, zugleich aber auch nur ernste Worte zu hören sein konnten. Bei der fröhlichen Begebenheit blieb nicht das Mindeste unbelichtet, da bis in das Hinterste geringer schwacher Abglanz vom allgemeinen Glanze und kleine Lichter vom großen Lichte drangen. Irgendwelchem Zweifel kann kaum unterliegen, dass ein gewisser anderer auch ganz gern einmal Gegen- stand so großer Freude gewesen wäre: Der sich sein Lebtag nie etwas hatte zuschulden kommen lassen, würde auch ganz gern einmal schuldig gewesen sein. Der immer einen anständigen Rock getragen hatte, würde auch ganz gern einmal recht zerlumpt und ab- gerissen ausgesehen haben. Sehr wahrscheinlich würde er auch ganz gern einmal der Länge nach in Mitleid er- regenden Fetzen am Boden gelegen sein, von wo ihn der Vater würde haben aufheben wollen. Der nie Feh- ler begangen hatte, würde vielleicht auch ganz gern einmal armer Sünder gewesen sein. Unter so holden Umständen verlorener Sohn zu sein, war ja geradezu ein Genuss, doch der Genuss blieb ihm ein für alle Mal versagt. Inmitten allseitiger Zufriedenheit und Vergnügtheit blieb niemand missvergnügt und übelgelaunt als doch hoffentlich nicht er? Jawohl! Inmitten gemeinschaftli- cher Fröhlichkeit und Geneigtheit blieb niemand un- gefreut und abgeneigt als doch hoffentlich nicht er? Jawohl! Was aus den übrigen Personen geworden ist, weiß ich nicht. Sehr wahrscheinlich sind sie sanft ge- storben. Der wunderliche Unzufriedene hingegen lebt noch. Neulich war er nämlich bei mir, um sich mir murmelnd und brummelnd als ein Mensch vorzustel- len, der verlegen sei, weil er mit der Geschichte vom verlornen Sohn zusammenhänge, von welcher er auf das Lebhafteste wünschen müsse, dass sie lieber nie geschrieben worden wäre. Auf die Frage, die ich an ihn richtete, wie man dies zu verstehen habe, antwortete er, dass er jener Daheimgebliebene sei. Ich wunderte mich über des sonderbaren Kauzes Un- behagen keine Sekunde lang. Für seine Verdrießlich- keit besaß ich uneingeschränktes Verständnis. Dass die Geschichte vom verlornen Sohn, worin er eine we- nig empfehlenswerte Rolle spielte, eine angenehme und erbauliche Geschichte wäre, hielt ich für unmög- lich. Vielmehr war ich in jeder Hinsicht vom Gegenteil überzeugt. 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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