Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

SprAChrAuM 3 Unterwegs und zuhause 22 unterwegs und zuhause Am Beginn der abendländischen Literatur steht ein Reisebericht, nämlich Homers „Odyssee“. Bis heute ist das Reisen ein beliebtes Thema, das Anlass zu Berichten, literarischen Texten, Kritik und Satire bietet. d676he Sprachraum 3 Kurt Tucholsky: Die Kunst, falsch zu reisen Wenn du reisen willst, verlange von der Gegend, in die du reist, alles: schöne Natur, den Komfort der Großstadt, kunstgeschichtliche Altertümer, billige Preise, Meer, Ge- birge […]. Ist das nicht vorhanden, dann schimpfe. Wenn du reist, nimm um Gottes willen keine Rücksicht auf deine Mitreisenden – sie legen es dir als Schwäche aus. Du hast bezahlt – die andern fahren alle umsonst. Bedenke, dass es von ungeheurer Wichtigkeit ist, ob du einen Fensterplatz hast oder nicht; dass im Nichtrau- cher-Abteil einer raucht, muss sofort und in den schärfs- ten Ausdrücken gerügt werden – ist der Schaffner nicht da, dann vertritt ihn einstweilen und sei Polizei, Staat und Rächer in einem. Das verschönt die Reise. Sei über- haupt unliebenswürdig – daran erkennt man denMann. […] Bist du im Hotel angekommen, so schreib deinen Namen mit allen Titeln ein ... Hast du keinen Titel ... Verzeihung ... ich meine: wenn einer keinen Titel hat, dann erfinde er sich einen. Schreib nicht: ›Kaufmann‹, schreib: ›Generaldirektor‹. Das hebt sehr. Geh sodann unter heftigem Türenschlagen in dein Zimmer, gib um Gottes willen dem Stubenmädchen, von dem du ein paar Kleinigkeiten extra verlangst, kein Trinkgeld, das verdirbt das Volk; reinige deine staubigen Stiefel mit dem Handtuch, wirf ein Glas entzwei (sag es aber kei- nem, der Hotelier hat so viele Gläser!), und begib dich sodann auf die Wanderung durch die fremde Stadt. In der fremden Stadt musst du zuerst einmal alles ge- nauso haben wollen, wie es bei dir zu Hause ist – hat die Stadt das nicht, dann taugt sie nichts. […] Bei Spazier- gängen durch fremde Städte trägt man am besten kurze Gebirgshosen, einen kleinen grünen Hut (mit Rasier- Robert Walser: Der verlorene Sohn Wenn ein Landedelmann nicht zwei Söhne gehabt hät- te, die glücklicherweise vollständig voneinander absta- chen, so würde eine lehrreiche Geschichte unmöglich haben zustande kommen können, nämlich die Ge- schichte vom verlornen Sohn, die mitteilt, dass der eine von den beiden verschiedenartigen Söhnen sich durch Leichtlebigkeit auszeichnete, während der ande- re durch denkbar soliden Lebenswandel hervorragte. Wo der eine frühzeitig sozusagen die Offensive ergriff und in die Welt hinaus marschierte, blieb der andere säuberlich daheim und verharrte mithin so zäh wie möglich gewissermaßen im Zustand abwartender Ver- pinsel), schwere Nagelschuhe (für Museen sehr geeig- net), und einen derben Stock. Wenn deine Frau vor Mü- digkeit umfällt, ist der richtige Augenblick gekommen, auf einen Aussichtsturm oder auf das Rathaus zu stei- gen; wenn man schon mal in der Fremde ist, muss man alles mitnehmen, was sie einem bietet. Verschwimmen dir zum Schluss die Einzelheiten vor Augen, so kannst du voller Stolz sagen: ich hab‘s geschafft. […]. Vergiss dabei nie die Hauptregel jeder gesunden Reise: Ärgere dich! Sprich mit deiner Frau nur von den Sorgen des Alltags. Koch noch einmal allen Kummer auf, den du zu Hause im Büro gehabt hast […]. Durcheile die fremden Städte und Dörfer – wenn dir die Zunge nicht heraushängt, hast du falsch disponiert; au- ßerdem ist der Zug, den du noch erreichenmusst, wich- tiger als eine stille Abendstunde. Stille Abendstunden sind Mumpitz; dazu reist man nicht. Auf der Reise muss alles etwas besser sein, als du es zu Hause hast. Schieb demKellner die nicht gut eingekühl- te Flasche Wein mit einer Miene zurück, in der ge- schrieben steht: „Wenn mir mein Haushofmeister den Wein so aus demKeller bringt, ist er entlassen!“ Mit den lächerlichen Einheimischen sprich auf alle Fälle gleich von Politik, Religion und dem Krieg. Halte mit deiner Meinung nicht hinterm Berg, sag alles frei heraus! Im- mer gib ihm! Sprich laut, damit man dich hört – viele fremde Völker sind ohnehin schwerhörig. Wenn du dich amüsierst, dann lach, aber so laut, dass sich die an- dern ärgern, die in ihrer Dummheit nicht wissen, wor- über du lachst. Sprichst du fremde Sprachen nicht sehr gut, dann schrei: man versteht dich dann besser. […]. teidigung. Wo wieder Ersterer gleichsam im Ausland herumvagabundierte, lungerte wieder Letzterer schein- bar höchst ehrbar gleichsam ums Haus herum. Während der Erste artig ausriss und hübsch eilig auf und davonrannte, hielt sich der Zweite beständig er- staunlich brav an Ort und Stelle auf und erfüllte mit unglaublicher Regelmäßigkeit seine täglichen Oblie- genheiten. Während wieder der eine weiter nichts Bes- seres zu tun hatte, als abzudampfen und fortzugon- deln, wusste leider wieder der andere weiter nichts Ge- scheiteres anzufangen, als mitunter vor lauter Tüchtig- keit, Ordentlichkeit, Artigkeit und Nützlichkeit schier umzukommen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 2 4 6 8 10 12 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 14 16 18 20 22 24 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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