Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

15 Flucht vor den Nazis Die Liste derMenschen, die nach derMachtübernah- me der Nationalsozialisten in Deutschland bzw. Ös- terreich ins Exil gingen, ist lang: Albert Einstein, Hannah Arendt, Sigmund Freud, Arnold Schönberg, Thomas Mann und Heinrich Mann, Egon Erwin Kisch, ErichMaria Remarque, Joseph Roth und viele mehr. Der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky ging nach Schweden ins Exil. Freilich kämpften viele in der Fremde mit Orientie- rungslosigkeit und Existenzängsten – und auch mit Heimweh. Einer der Exilanten, Bertolt Brecht, drück- te im Gedicht „Über die Bezeichnung Emigration“ aus, was viele dachten: „Unruhig sitzen wir so, mög- lichst nahe den Grenzen, wartend des Tags der Rück- kehr, jede kleinste Veränderung jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.“ Die deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler hielt ihre Gemütsverfassung in denWorten fest: „Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild, durch bleiche Zeiten träumend.“ […] (Salzburger Nachrichten, 23.07.2016; Auszug) 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 Hans Christian Andersen: Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern Es war fürchterlich kalt; es schneite und begann dunkler Abend zu werden, es war der letzte Abend im Jahre, Neujahrsabend! In dieser Kälte und in dieser Finsternis ging ein kleines, armes Mädchen mit bloßemKopfe und nackten Füßen auf der Straße. Sie hatte freilich Pantof- feln gehabt, als sie vom Hause wegging, aber was half das! Es waren sehr große Pantoffeln, ihre Mutter hatte sie zuletzt getragen, so groß waren sie, diese verlor die Kleine, als sie sich beeilte, über die Straße zu gelangen, indem zwei Wagen gewaltig schnell daher jagten. Der eine Pantoffel war nicht wieder zu finden und mit dem andern lief ein Knabe davon […]. Da ging nun das arme Mädchen auf den bloßen, kleinen Füßen, die ganz rot und blau vor Kälte waren. In einer alten Schürze hielt sie eine Menge Schwefelhölzer¹ und ein Bund trug sie in der Hand. Nie- mand hatte ihr während des ganzen Tages etwas abgekauft, niemand hatte ihr auch nur einen Dreier² geschenkt; hungrig und halberfroren schlich sie einher und sah sehr gedrückt aus […]. In einem Winkel zwischen zwei Häusern – das eine sprang etwas weiter in die Straße vor, als das andere – da setzte sie sich und kauerte sich zusammen. Die kleinen Füße hatte sie fest angezogen, aber es fror sie noch mehr, und sie wagte nicht nach Hause zu gehen, denn sie hatte ja keine Schwefelhölzer verkauft, nicht einen einzigen Dreier erhalten. Ihr Vater würde sie schlagen, und kalt war es daheim auch, sie hatten nur das Dach gerade über sich und da pfiff der Wind herein, obgleich Stroh und Lappen zwischen die größten Spalten gestopft waren. Ihre kleinen Hände waren vor Kälte fast ganz erstarrt. Ach! Ein Schwefelhölzchen könnte gewiss recht gut tun; wenn sie es nur wagen dürfte, eins aus dem Bunde her- auszuziehen, es gegen die Wand zu streichen, und die Finger daran zu wärmen. Sie zog eins heraus, „Ritsch!“ Wie sprühte es, wie brannte es! Es gab eine warme, helle Flamme, wie ein kleines Licht, als sie die Hand darum hielt, es war ein wunderbares Licht! Es kam dem kleinen Mädchen vor, als sitze sie vor einem großen eisernen Ofen […] das Feuer brannte ganz herrlich darin und wärmte schön! – Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen – da erlosch die Flamme, der Ofen verschwand – sie saß mit einem kleinen Stumpf des ausgebrannten Schwefelholzes in der Hand. Ein neues wurde angestrichen, es brannte, es leuchtete, und wo der Schein desselben auf die Mauer fiel, wurde diese durchsichtig wie ein Flor³. Sie sah gerade in ein Zimmer hinein, wo der Tisch mit einem glänzend wei- ßen Tischtuch und mit feinem Porzellan gedeckt stand, und herrlich dampfte eine mit Pflaumen und Äpfeln ge- füllte, gebratene Gans darauf ! Und was noch prächtiger war, die Gans sprang von der Schüssel herab, watschelte auf dem Fußboden hin mit Gabel und Messer im Rücken, gerade auf das arme Mädchen kam sie zu. Da erlosch das Schwefelholz, und nur die dicke, kalte Mau- er war wieder zu sehen. Sie zündete ein neues an. Da saß sie unter dem schöns- tenWeihnachtsbaume. Der war noch größer und aufge- putzter als der, welchen sie zu Weihnachten durch die Glastür bei dem reichen Kaufmanne erblickt hatte. Viel tausend Lichter brannten auf den grünen Zweigen […]. Die Kleine streckte die beiden Hände in die Höhe – da erlosch das Schwefelholz; die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und immer höher, nun sah sie, dass es die klaren Sterne am Himmel waren […] Sie strich wieder ein Schwefelholz gegen die Mauer, es leuchtete rings- umher, und im Glanze desselben stand ihre alte Groß- mutter, mild und lieblich da. „Großmutter!“, rief die Kleine. „Nimm mich mit! Ich weiß, dass du auch gehst, wenn das Schwefelholz aus- geht; gleichwie der warme Ofen, der schöne Gänsebra- ten und der große, herrliche Weihnachtsbaum!“ Sie strich eiligst den ganzen Rest der Schwefelhölzer, wel- che noch im Bunde waren, sie wollte die Großmutter recht festhalten; und die Schwefelhölzer leuchteten mit solchem Glanz, dass es heller war, als am lichten Tage. Die Großmutter war nie so schön, so groß gewesen; sie hob das kleine Mädchen auf ihren Arm, und in Glanz und Freude flogen sie in die Höhe, und da fühlte sie kei- ne Kälte, keinen Hunger, keine Furcht. Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgen- stunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit lä- chelndem Munde – tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Der Neujahrsmorgen ging über die kleine Leiche auf, welche mit Schwefelhölzern da saß, wovon ein Bund fast verbrannt war. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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