Sprachräume, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Maturatraining

13 mühsame Suche nach dem korrekten Ausdruck? „Wir haben die Welt ja nicht vor uns und kleben ihr Etiketten auf “, gibt Martin Wengeler, Professor für germanistische Linguistik an der Uni Trier, zu beden- ken: „Vielmehr wird mit Sprache Wirklichkeit kon- struiert. Die Wahl der Worte beeinflusst unser Den- ken.“ Wenn Medien in der Asyldebatte etwa von „Flut“ oder „Wellen“ berichteten, sei es keinWunder, wenn Flüchtlinge vor allem als Bedrohung und Cha- osstifter wahrgenommen würden. Das Gleiche gelte für militärische Metaphern wie „Ansturm“ – ein Be- griff, der auch in Artikeln des STANDARD auftaucht und in der Redaktion selbst heißumstritten ist. Dass da eine selbsternannte Sprachpolizei Zustände beschönige, wenn nicht sogar Zensur ausübe, lässt Wengeler nicht gelten. Es sei ja schon ein Running Gag, dass jene, die ständig Sprechverbote beklagten, ihre Überzeugungen in Talkshows am lautesten her- ausschrien. Niemand hindere sie daran, sagt der Lin- guist: „Umgekehrt lasse ich mir aber auch nicht ver- bieten, eine menschenfreundliche, nichtdiskriminie- rende Sprache zu verwenden.“ (Der Standard, 13.11.2015) 1 volatil: schwankend 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 Interview von Maria Sterkl mit dem Sprachwissenschafter Anatol Stefanowitsch (Jg. 1970, Freie Uni Berlin) „Asylant“ und Co: „Dann darf ich das Wort eben nicht verwenden“ Es gibt keine Denkverbote, man darf alles sagen – man sollte aber wissen, was man damit bewirkt, sagt Sprachforscher Anatol Stefanowitsch STANDARD: „Was darf man heute überhaupt noch sagen?“, heißt es oft. Was antworten Sie? STEFANOWITSCH: Man darf natürlich alles sagen – außer explizit Verbotenes wie Holocaustleugnung oder Beleidigung. Meistens meinen die Leute damit, man darf nichts mehr sagen, ohne kritisiert zu wer- den. Ich würde raten: Ist man unsicher, ob man ein Wort verwenden soll oder nicht, sollte man sich auf seinGespür verlassen, obmit diesemWort Absichten verbunden werden könnten. In den meisten Fällen sollte es allgemein bekannt sein. Wer noch nicht mit- bekommen hat, dass der „Zigeuner“ als herabwürdi- gend empfunden wird und es auch gute historische Gründe gibt, das nicht zu verwenden, den kann man kaum ernst nehmen. STANDARD: Nicht immer ist es so eindeutig. „Asyl- ant“ war früher gebräuchlicher, jetzt nicht mehr. Wer bestimmt, ab wann ein Begriff nicht mehr akzeptabel ist? STEFANOWITSCH: „Asylant“ war nie ein ganz nor- males Wort, es war immer negativ behaftet und grenzte sich von anderen Begriffen wie den „Asylsu- chenden“ ab, die es damals ja auch schon gab. Negativ behafteteWörter werden aber oft als neutral empfun- den – nämlich dann, wenn die Gesellschaft sichmehr oder weniger einig ist, dass das, worüber man spricht, negativ ist. Lebe ich in einer Gesellschaft, in der eine Art Alltagsrassismus selbstverständlich ist, dann kommen mir natürlich rassistische Bezeichnungen eher normal vor. STANDARD: Ist die Gesellschaft also sprachsensibler als früher? STEFANOWITSCH: Sehr vorsichtig würde ich sa- gen: ja. Wir führen zwar immer wieder dieselbe Dis- kussion, über Wörter in Kinderbüchern etwa, aber immerhin wird diskutiert – in den 1950ern war das anders. STANDARD: Wenn aber heute jemand „Asylant“ sagt und es gar nicht böse meint? STEFANOWITSCH: Wenn ein Begriff nur von be- stimmten rechten Gruppen verwendet wird, und ich verwende ihn auch, muss ich damit rechnen, dass ich dieser Gruppe zugeordnet werde. Will ich das nicht, dann darf ich dasWort eben nicht verwenden – auch wenn es mir selbst noch so harmlos erscheint. STANDARD: Welche Begriffe stören Sie in der Flücht- lingsdebatte? STEFANOWITSCH: Es klingt harmlos, ist aber per- fide: die „Obergrenze“. Das ist das neue „Das Boot ist voll“. Diese Überfüllungsmetaphorik tut so, als ob das Erreichen der Obergrenze unmittelbar bevorste- he. Und sie sagt: Wir müssen die Menge reduzieren. Auch die „Flüchtlingsflut“ oder „-welle“ tut so, als gebe es nur die Option, Dämme zu bauen. Man könnte aber fragen, ob es in Deutschland nicht noch viel Platz gäbe. In der Flut und der Obergrenze ist ein produktiver Umgang mit dem Problem gar nicht vorgesehen. STANDARD: Man kann sehr bemüht um sensible Sprache sein – und trotzdem grausame Dinge sagen. STEFANOWITSCH: Ja, auf jeden Fall. Aber es schlägt auch niemand vor, diese grausamen Dinge nicht zu kritisieren. Und der Umkehrschluss – dann kann ich gleich diskriminierende Sprache verwen- den, solange ich damit nur nette Dinge sage –, klappt auch nicht. Ich kann zwar mit neutraler, nüchterner Sprache Schreckliches sagen, ich kann aber nicht mit diskriminierender Sprache nicht diskriminieren. Auch Sprachaktivisten, die eine bestimmte Sprache propagieren, glauben übrigens nicht, dass damit das Problem gelöst ist. STANDARD: Bei sensibler Sprache ist oft von Denk- verboten die Rede. Zu Recht? 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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