Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPrACHrAuM 7  Schwerpunkt Lyrik – „Die große Vielfalt“ 94 Textkompetenz Schriftliche Kompetenz mein, in diversen schimmligen Kellern gebunkertes Hab und Gut – und ich musste mit Verwunderung feststellen, dass ich mich nicht einmal an alles erin- nern konnte. Sollten durch unglückliche Umstände meine gelagerten „Schätze“ allesamt in Flammen aufgehen – ich könnte nicht sagen, was mir wirklich fehlte. Das einzige, was mir spontan einfiele, wären meine Fotokisten. Aber alles andere? Nichts, das un- ersetzbar oder unentbehrlich wäre. Und diese Er- Klaus A. Amann: Darauf kann ich nicht verzichten Wenn ich zu den Mitteleuropäern gehöre, die etwa 10.000 Dinge besitzen, dann müsste es einfach sein, auf vieles davon zu verzichten. Und das Inventar des Unverzichtbaren müsste doch überschaubar sein! Also: Auf meinen Computer kann ich unmöglich verzichten, ich könnte nicht einmal diesen Text schreiben, so leserlich und formatiert. Damit mache ich einen guten Teil meiner Arbeit, und ein leider ebenso guter Teil meiner Freizeit ist auch an Bits und Bytes gebunden. Auf das Internet kann ich ebenso wenig verzichten. […] Auch den Fotoapparat möch- te ich nicht missen. Scanner, Aufnahmegerät, Fax- Telefon, Laptop und Handy sind zwar nicht so drin- gend, aber immer wieder praktisch. Auch auf die Photovoltaik-Anlage möchte ich nicht verzichten, da sie noch 12 bis 15 Jahre braucht, um sich zu amorti- sieren. Auch auf das Auto kann ich nicht verzichten, die Zug- und Busverbindungen sind zu unregelmä- ßig. Auch für den Einkauf und die Flucht aus dem Kuhdorf ist es unerlässlich. Weiters brauche ich alle Küchen- und Haushaltsgeräte, und wenn ich nicht, dann meine Frau und die Putzfrau. Diesen Sommer waren wir zwei Tage ohne Kühlschrank, das war nerv- lich das Limit. Die Fotoalben der analogen Fotozeit brauche ich ebenfalls, sie ermöglichen uns Zeitreisen in die Vergangenheit und beschönigen nichts. […] Ich brauche das Fahrrad, um schnell zum Bäcker zu Georg Mayrhofer: Fortschritt war auch immer materieller Fortschritt Der Fortschritt der menschlichen Kultur war immer auch materieller Fortschritt. Wer einmal mit Opas Schraubenzieher gearbeitet hat und dieselbe Tätig- keit dann mit einem modernen Chrom-Vanadium Schraubenzieher mit ergonomischem Griff gemacht hat, weiß, dass man Dinge lieben kann. Wir stellen eine Beziehung zu Gegenständen her, die uns nüt- zen. Doch diese Liebe zu materiellen Gütern droht zur Ersatzhandlung zu werden. […] Und wir sollten mehr darüber nachdenken, wie materielle Güter ent- stehen. Steht der Besitz von immer mehr Dingen nicht oft imGegensatz zu unseren Vorstellungen von Menschlichkeit? Die aktuelle Flut an Dingen kann nur hergestellt werden, weil man extreme Ungleich- kenntnis war berauschend. Es ist sehr befreiend, zu merken, dass man eigentlich nichts braucht. […] Leider währt die Erkenntnis dieser Reiseerlebnisse nicht ewig. Kleinlaut muss ich zugeben, dass ich mich immer wieder dabei ertappe, wie ich beginne, unnützen Krimskrams anzusammeln, und dann, wenn ich nicht mehr weiß, wohin damit, alles in den Keller stelle. sausen, vor allem in der Früh. Auf die meisten Erin- nerungsstücke will ich ebenfalls nicht verzichten, und wenn einmal, dann will es meine Frau behalten. Ihre Erinnerung ist anders als meine. […] Die Arm- banduhr. […] Natürlich hat das Handy auch eine Uhr auf dem Display, aber dann lass ich das wieder liegen, es genügt mir schon, dass ich regelmäßig die Brille suche. Auf die kann ich auch nicht mehr ver- zichten und wenn wir früher zum Reisen den Pass, das Ticket, das Geld und ein wenig Häß (= Gwand) benötigten, so sind es heute: Pass, Kreditkarten, Bankomatkarten, e-card, Vorteilscard, TouringClub- Card, Wecker, Brille, Sonnenlesebrille, Sonnenbrille zum Autofahren, Handy, Fotoapparat, Ladegeräte mal drei, Speicherkarten, Steckdosenadapter, Reise- führer, USB-Stick, Navi, CDs, Kühltasche und Schutzfaktor 30 bis 50, je nach Reiseziel. Verzicht – my ass! […] Wir wissen es alle: die Wirtschaft muss wachsen. Muss sie wirklich? Ich glaube das schon lange nicht mehr. Andererseits, wenn alle ihre Röh- renbildschirme 18 Jahre lang verwenden und keine Anstalt machen, einen Geiz-ist-geilen Flat-Screen- LCD-Bildschirm zu erwerben, dann kann das Un- ternehmen zusperren. […] Es bleibt uns eigentlich nur eines: weiterhin kaufen, kaufen, kaufen und dann darauf verzichten! Hoffen, dass das Produkt schnell kaputt geht. Oder wegwerfen. Verlieren. Weil verzichten schwierig ist. heit in Kauf nimmt. Ohne Produktionsstätten in Entwicklungsländern bis zur unappetitlichen Praxis der Kinderarbeit wäre vieles gar nicht finanzierbar. Wenn wir Gegenstände, die wir benötigen, lieben können, dann dürfen wir sie auch moralisch bewer- ten. Wir könnten uns der Frage stellen, ob ihr Besitz den Hintergrund, vor dem sie entstehen, rechtfer- tigt. Wir könnten ein wenig der Zuneigung, die wir Materialisten auf Dinge übertragen haben, bei der Frage, wie diese Dinge entstehen, wieder an unsere Mitmenschen zurückgeben. […] Wer das Gefühl hat, einer Tyrannei der Dinge ausgeliefert zu sein, kann das damit verbundene ‚schlechte Karma’ da- durch verbessern, dass er diese Dinge gewissenhaf- ter erwirbt. 16 18 20 22 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 2 4 6 8 10 12 14 24 26 28 30 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 16 18 20 22 24 26 28 30 Quelle: www.derstandard.at/1324501331703/Muss-haben ; abgerufen 15.09.2017 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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