Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

SPrACHrAuM 6  Interpretation epischer Texte – „Lebenspläne“ 82 Eine Interpretationsarbeit analysieren und beurteilen Zum Text „Augenblicke“ wurde auf Basis der Fragen von Aufgabe 6.2 folgende Themenstellung als Hausübung aufgegeben: Interpretieren Sie den Text „Augenblicke“ (540−660 Wörter): Fassen Sie den Text zusammen, erläutern Sie die dargestellte Problematik und beurteilen Sie die Handlungsweise der Personen, begründen Sie, weshalb man „Augenblicke“ als typische Kurzgeschichte ansehen kann. Diskutieren Sie in der Gruppe über die folgende Schülerhausübung: Achten Sie dabei darauf, ob die oben angeführten Arbeitsaufgaben erfüllt wurden, und auch auf folgende Aspekte: Belege der Deutungen durch den Text, Verwendung von Zitaten zur Veranschaulichung der Interpretation, ausreichende Begründung der eigenen Meinung und Wertung. Beurteilen Sie die sprachliche Ausführung der Interpretation: Sind Aufbau, Übergänge und Textzusammen- hang klar? Ist der Text in einwandfreier Standardsprache geschrieben? Können Wortwiederholungen als gewollt und stilistisch gerechtfertigt angesehen werden? Ist der Bezug aller Personalpronomen klar? Ist der Satzbau variabel oder eher eintönig? a b Textkompetenz Schriftliche Kompetenz Schülerarbeit Vor einiger Zeit habe ich einen Cartoon entdeckt: Ein Mädchen und ein Junge, so um die 18 bis 20, diskutieren allein im Wohnzimmer. Das Mädchen erklärt dem Jungen, dass es eine eigene Wohnung will. Die Mutter bringt Kaffee, der Junge freut sich. Dann bringt sie Kekse, der Junge findet das sehr an- genehm. Dem Mädchen aber geht das ständige Kommen der Mutter auf die Nerven. Sie fühlt sich kontrolliert und reagiert schnippisch auf die Be- mutterung. Ist es sowieso eine Eigenheit der Mäd- chen, aus dem Haus zu wollen, und möchten die Söhne dagegen viel lieber im „Hotel Mama“ blei- ben? Oder geht es darum, dass die Töchter eher sich von den Müttern losmachen wollen und die Söhne von den Vätern? Die Kurzgeschichte „Augenblicke“ von Walter Helmut Fritz behandelt jedenfalls das Thema Mutter-Tochter-Beziehung. Mutter und Tochter leben zusammen in einer Woh- nung. Der Ehemann der Mutter ist gestorben, die Tochter ist ihre einzige Bezugsperson. Die Tochter fühlt sich beengt und versucht den Kontaktversu- chen der Mutter aus dem Weg zu gehen. Die Suche nach einer eigenen Wohnung treibt sie in die Stadt. Doch sie hat die Adresse der Wohnungsvermitt- lung vergessen. Deshalb lässt sie sich halt durch die Stadt treiben, im Kopf das Vorhaben auszuziehen und die Unerträglichkeit des weiteren Zusammen- lebens mit der Mutter. Als sie absichtlich spät nach Hause kommt, um ihre Mutter nicht mehr sehen zu müssen, denkt sie verzweifelt daran, dass sie alt und krank ist und sie braucht. Ob die Tochter ihren Plan auszuziehen in die Tat umsetzt, bleibt offen. Die Geschichte wird von einem auktorialen Erzäh- ler berichtet, er kennt die Gefühle und Gedanken der Personen. Der Erzähler weiß auch, dass diese Art von Mutter-Tochter-Beziehung schon länger andauert, denn die Tochter erwartet auch an die- sem Tag, dass die Mutter wieder ins Bad kommen wird und ist wegen dieser Erwartung „behext, ent- setzt, gepeinigt“. Es ist wie „immer, wie fast immer“. Die Erzählung setzt so ungefähr am frühen Nach- mittag ein, kurz vor Mitternacht kehrt Elsa zurück. Ein halber Tag wird in einer Erzählzeit von unge- fähr drei Minuten berichtet. Innerhalb der Erzäh- lung werden die einzelnen Abschnitte unterschied- lich lang dargestellt. Die Eingangszene im Bad wird zeitdeckend erzählt. Dies ist verständlich, weil die- se Situation ist besonders typisch für das Kontakt- suchen der Mutter und die Kontaktabwehr der Tochter. Durch das zeitdeckende Erzählen kann man auch den Reden der beiden folgen, die kurz und belanglos sind und nur das Allernotwendigste an Kontakt enthalten. Das Umherstreifen Elsas in der Stadt wird zeitraffend erzählt; Erzählzeit unge- fähr dreißig Sekunden, erzählte Zeit: von Nachmit- tag bis „kurz vor Mitternacht“. Elsa ist hektisch und unruhig. Sie bleibt nirgends lang, und man hat den Eindruck, sie sucht eh kei- nen Kontakt. Sie bleibt Beobachterin: „Sie sah in eine Bar hinein. Sie sah den Menschen nach, die vorbeigingen. Sie trieb mit“ usw. Auch die vielen kurzen Sätze und die Wiederholungen am Satzan- fang verstärken den Eindruck der Hektik. Dass El- sas Flucht in die Stadt mehr ein Ausbruchsversuch ist als eine wirkliche Suche nach einer eigenen Wohnung und einer wirklichen Veränderung, zeigt sich auch darin, dass sie die Adresse der Woh- nungsvermittlung nicht bei sich hat. Sucht man wirklich eine Wohnung, so geht man überlegter vor. Die Kurzgeschichte spielt am 22. Dezember. Die Weihnachtszeit als „Zeit der Liebe“ bildet einen be- sonderen Kontrast zu den Beziehungsproblemen zwischen Mutter und Tochter. Fraglich ist, wie sich diese Probleme lösen lassen. Als Elsa nach Hause kommt, ist es still in der Woh- nung. Das kann vieles bedeuten: Die Mutter kann einfach schlafen, aber auch krank sein oder sogar tot. Elsa jedenfalls scheint auch an diese Möglich- keiten zu denken: „Sie dachte daran, dass ihre Mut- ter alt und oft krank war.“ Elsa spürt, dass es keine leichte Lösung geben wird. Ihr Wunsch nach Selbstständigkeit und dem Ende der Bemutterung und der Wunsch der Mutter nach einer Bezugsper- son stehen einander im Weg. Helfen kann ihr nie- 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 6.3 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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