Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

81 Tram fuhr sie in die Stadt, in die Gegend der Post. Dort sollte es eine Wohnungsvermittlung geben, hatte sie gehört. Sie hätte zu Hause im Telefonbuch nach einer Adresse sehen können. Sie hatte nicht daran gedacht, als sie die Treppen hinuntergeeilt war. In einem Ge- schäft für Haushaltungsgegenstände fragte sie, ob es in der Nähe nicht eine Wohnungsvermittlung gäbe. Man bedauerte. Vielleicht im nächsten Haus. Sie läutete um- sonst. Es war später Nachmittag. Samstag. Zweiund- zwanzigster Dezember. Sie sah in eine Bar hinein. Sie sah den Menschen nach, die vorbeigingen. Sie trieb mit. Sie betrachtete Kinoreklamen. Sie ging Stunden umher. Sie würde erst spät zurückkehren. Ihre Mutter würde zu Bett gegangen sein. Sie würde ihr nicht mehr gute Nacht sagen brauchen. Sie würde sich, gleich nach Weihnachten, eine Wohnung nehmen. Sie war zwanzig Jahre alt und verdiente. Kein einziges Mal würde sie sich mehr beherrschen können, wenn ihre Mutter zu ihr ins Bad kommen würde, wenn sie sich schminkte. Kein einziges Mal. Ihre Mutter lebte seit dem Tod ihres Mannes allein. Oft empfand sie Langeweile. Sie wollte mit ihrer Tochter sprechen. Weil sich die Gelegenheit selten ergab (Elsa schützte Arbeit vor), versuchte sie sie auf dem Flur zu erreichen oder wenn sie im Bad zu tun hatte. Sie liebte Elsa. Sie verwöhnte sie. Aber sie, Elsa, würde kein einziges Mal mehr ruhig bleiben kön- nen, wenn sie wieder zu ihr ins Bad käme. Elsa floh. Über der Straße künstliche, blau, rot, gelb erleuchtete Sterne. Sie spürte Zuneigung zu den vielen Leuten, zwischen denen sie ging. Als sie kurz vor Mitternacht zurückkehrte, war es still in der Wohnung. Sie ging in ihr Zimmer, und es blieb still. Sie dachte daran, dass ihre Mutter alt und oft krank war. Sie kauerte sich in ihren Sessel, und sie hätte unartikuliert schreien mö- gen, in die Nacht mit ihrer entsetzlichen Gelassenheit. 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 Textkompetenz Schriftliche Kompetenz Thematische Aspekte eines Textes bestimmen Untersuchen Sie, ob folgende Behauptungen über den Text („Interpretationshypothesen“) richtig oder falsch sind. Korrigieren Sie die falschen Annahmen mit Hilfe der entsprechenden Textstellen. Halten Sie Ihre Antworten in Stichworten fest. ƒƒ Die im Titel angesprochenen „Augenblicke“ sind Ausschnitte aus einer problematischen Mutter-Tochter- Beziehung. ƒƒ Die Leserinnen/Leser geraten direkt in diese Situation ohne Einleitung hinein. ƒƒ Die Problematik der Beziehung besteht darin, dass die Personen nicht miteinander reden können. ƒƒ Beide bemühen sich, die Kommunikationsprobleme zu lösen. ƒƒ Die Mutter hat auch Kontakt und Kommunikation mit Freundinnen. ƒƒ Bad und Flur sind offenbar die einzigen Begegnungsorte von Mutter und Tochter. ƒƒ Der Text beschränkt sich auf zwei Orte, an beiden ist kein Miteinander der Menschen sichtbar. ƒƒ Der Erzähler kennt die Gefühle der beiden und zeigt, dass diese Situation schon länger besteht. ƒƒ Die Handlung lässt sich in drei Abschnitte gliedern, jedoch kein Abschnitt zeigt eine Lösung des Problems. ƒƒ Elsa wirkt verzweifelt, sie wird ihre Mutter verlassen. ƒƒ Die dargestellte Situation lässt sich verallgemeinern, schwierige Kommunikationssituationen zwischen Jung und Alt sind kein Sonderfall. 6.1 Aufbau, Form und Inhalt von Texten erfassen und stichwortartig notieren Bestimmen Sie die Textgattung und die Erzählperspektive (Ich-Erzählung, auktorial, personal?). Aufbau: Beschreiben Sie die verschiedenen Etappen der Handlung. Der Ort: Benennen Sie die Orte des Geschehens. Erläutern Sie, weshalb gerade das Badezimmer eine zentrale Rolle spielt. Die Zeit: Erläutern Sie das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit! Begründen Sie, weshalb der Autor das Geschehen gerade in die Weihnachtszeit verlegt. Begründen Sie, weshalb der Autor zwei Rückblenden (Zeile 48 ff. und 28 ff.) einfügt. Die Personen und der Konflikt: Beschreiben Sie die beiden Personen, benennen Sie den Konflikt zwischen ihnen. Nimmt der Erzähler zu diesem Konflikt eine neutrale Haltung ein oder ergreift er Partei? Beschreiben Sie den Inhalt der Gespräche zwischen Mutter und Tochter und erläutern Sie, weshalb der Autor nur sehr wenige und kurze direkte Reden zwischen Mutter und Tochter gestaltet. Erläutern Sie die Versuche Elsas, aus der von ihr für unerträglich wahrgenommenen Situation zu entkommen. Ist der Konflikt am Ende gelöst? Deuten Sie Schlusssatz und Schlussmetapher „Sie kauerte sich in ihren Sessel, und sie hätte unartikuliert schreien mögen, in die Nacht mit ihrer entsetzlichen Gelassenheit.“ Beschreiben Sie den Stil: Satzlänge, Satzarten, Vokabular, Sprachniveau (gewählte Sprache, Mundart, Umgangssprache) und erläutern Sie, weshalb der Autor gerade diesen Stil gewählt hat. a b 6.2 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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