Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

77 Es war einmal einMann, der hatte seine Axt verloren. Er hatte seines Nachbarn Sohn im Verdacht und beobach- tete ihn. Die Art, wie er ging, war ganz die eines Axt- diebs. Sein Gesichtsausdruck war ganz der eines Axt- diebs. Die Art, wie er redete, war ganz die eines Axt- diebs. Aus allen seinen Bewegungen und aus seinem ganzen Wesen sprach deutlich der Axtdieb. Zufällig grub der Mann einen Graben um und fand seine Axt. Am anderen Tag sah er den Nachbarssohn wieder. Alle seine Bewegungen und sein ganzes Wesen hatten nichts mehr von einem Axtdieb an sich. 2 4 6 8 10 12 Literarische Texte: vieldeutig, aber nicht beliebig deutbar Wenden Sie sich noch einmal dem kurzen „Bahnhoftext“ von oben zu. Wenn Sie Ihre Deutungsvorschläge verglichen haben, so werden Sie einige Unterschiede festgestellt haben. Ihre Deutungen haben nämlich nicht nur mit dem Text zu tun, sondern immer auch mit Ihnen: Ihren Erfahrungen, Stimmungen, Ihrer Fantasie, Ihren aktuellen Gedanken und Erlebnissen. Für den „Bahnhoftext“ sind viele Deutungen möglich, allerdings nicht beliebige und willkürliche. Es wäre nicht begründbar zu behaupten, das „Er“ springe aus dem Zug, weil er mit einem Bein im Trittbrett hängen geblieben sei oder weil er seine Jacke im Waggon vergessen habe. Genauso verhält es sich mit der Interpretation literarischer Texte. Sie sind oft mehrdeutig, aber die Interpretationen müssen am Text belegbar sein, Willkür und Beliebigkeit müssen vermieden werden. Die Wissenschafterin Angelika Corbineau-Hoffmann hat das präzise so ausgedrückt: „Man kann über einen Text nicht sagen, was man will, sondern nur, was er will. Das ist zwar vieles, aber nicht schlechterdings alles.“ Überlegungen zu zwei literarischen Texten sollen Ihnen das verdeutlichen. Bertolt Brecht: Das Wiedersehen Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ „Oh!“, sagte Herr K. und erbleichte. „Spannend“ und „interessant“ werden beide Texte vor allem durch das Bemühen, zu verstehen, was sie „meinen“, also sie zu interpretieren und sich die Texte selbst „näherzubringen“. Wolfgang Borchert (1921–47): Lesebuchgeschichten (Ausschnitt) Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter. Warum nicht, fragte der Soldat. Besprechen Sie in der Gruppe mögliche Antworten auf Interpretationsfragen zu einem der beiden Texte: Geht es im ersten Text nur um die Erzählung über einen Mann und eine kleine Begebenheit? Warum erzählt der Autor überhaupt diese Geschichte? Wo ist die Pointe des Textes, ihr ,springender Punkt‘? Was ist das Anliegen des Textes, wieso spricht der Erzähler dieses Anliegen nicht unmittelbar aus? Richtet der Text einen Appell auch an uns, 2500 Jahre später, oder ist er an eine bestimmte geschichtliche Situation gebunden? Welche stilistischen Eigenheiten zeigt der Text, mit welcher Absicht sind sie verwendet worden? Entspricht die Reaktion Herrn K.s im Text von Bertolt Brecht unseren üblichen Denkgewohnheiten? Warum erschüttert Herrn K. das Wiedersehen so, dass er erbleicht? Wie fasst K. den Begriff Veränderung auf? a b Uwe Kolbe (geb. 1957): Ungleichheit der Chancen Komm lass dich anschaun Wenn du die Straße passierst Und mir entgegenkommst bei grünem Licht Komm schöne Frau komm Braunhäutige Du mit dem schlanken Hals Mit deinen zarten Armen komme auf mich zu. Geh bitte an mir vorüber auch Wenn du bemerktest was geschah: Ich sah dich an errötete Und blieb es Bis herab zum Bauch Bis über den Rücken hinunter. Ja gehe weiter und schau dich nicht um Wenn du auch weißt Dass nichts mehr für mich geht Dass ich dir nachblick hoffnungslos. Etwas ist gewachsen und ändert sich Und ich bin ohne Ausweg. 2 4 6 10 12 8 14 16 18 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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