Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

zwISCHEnrAuM 2  Interpretieren ist spannend 76 Interpretieren ist spannend „Was allgemein verständlich ist, fordert nicht zum Interpretieren heraus. Am Ausgangspunkt des Interpretierens steht die Erfahrung, dass etwas nicht gleich verständlich ist. Diese Möglichkeiten der Deutung sind das Spannende an der Literatur“, meint der Literaturwissenschafter Jochen Vogt. Die „Spannung der Interpretation“ möchten Ihnen dieser Zwischenraum und die Sprachräume 6 bis 8 vermitteln. zwISCHEnrAuM 2 n88n8n Notieren Sie ein paar Deutungsmöglichkeiten („Interpretationshypothesen“) zu den zwei letzten Sätzen des „Bahnhoftextes“ und vergleichen Sie Ihre Deutungsvorschläge in der Klasse. Stellen Sie fest, ob es zahlenmäßig dominierende Interpretationsvorschläge gibt, präsentieren Sie besonders originelle Deutungen. Literarische Texte fordern zum Interpretieren heraus Sie lesen eine Gebrauchsanweisung, eine Montageanleitung, eine Heiratsannonce, einen Sportbericht oder ein Stellenangebot. Jeder dieser Sachtexte liefert Ihnen unter der Voraussetzung, dass er sprachlich verständlich abgefasst ist, eindeutige Informationen. Ähnlich scheint es auf den ersten Blick mit Texten wie dem folgenden zu sein: „Der Intercity aus Innsbruck fuhr in den Bahnhof ein. Es war 23 Uhr 11. Ich stand auf dem Bahnsteig. Als der Zug hielt, ging die Tür auf, viele Leute stiegen aus. Auch er. Karl sprang aus dem letzten Waggon; sehr langsam kam er dann auf mich zu; war er es wirklich? Damit hatte ich nicht gerechnet.“ Auch hier ist der gedankliche Rahmen zunächst klar. Wenn ein Zug in den Bahnhof einfährt und stehen bleibt, steigen Leute aus. An den ersten beiden Sätzen ist nichts zu deuten, sie sind ohne Kommentar verstehbar und nicht weiter interpretierbar. Anders steht es mit den letzten beiden Sätzen. Sie lassen sich über den unmittelbaren Wortsinn hinaus deuten, interpretieren: Warum zum Beispiel ist der Ich-Erzähler/die Ich-Erzählerin offenbar verunsichert, verwirrt, verblüfft? Viele Deutungsmöglichkeiten stehen offen. Zu den Texten, bei denen sowohl das sachliche Verstehen als auch das Interpretieren ihren Platz haben, gehören die meisten literarischen Texte. Interpretieren hilft zu verstehen Viel wichtiger als im oben zitierten, anspruchslosen Text ist die Interpretation bei künstlerischen Texten. Nicht wenigen würde man ohne Bemühen um Interpretation verständnislos gegenüberstehen und so auf manch spannendes, bewegendes, irritierendes Erlebnis verzichten müssen. WAS MEINT „INTERPRETIEREN“? Betrachten wir das Wortfeld „Interpretation, interpretieren, Interpret/in“: Wenn Musiker/innen ein Werk interpretieren, so vermitteln sie zwischen Musik und Publikum, bringen dem Publikum die Musik nahe. Wenn ein Schauspieler/eine Schauspielerin eine Rolle interpretiert, so vermittelt er/sie den Besuchern einen Charakter, eine Situation, einen Konflikt. Auch die Interpretation, die Sie anstellen, ist kein Selbstzweck. Auch sie ,vermittelt‘, und zwar zwischen den literarischen Werken und Ihnen selbst, bringt Ihnen einen Text nahe und lässt Sie ,in‘ und ,hinter‘ den Text blicken. Zwei Beispiele sollen Ihnen das verdeutlichen, ein alter chinesischer Text und einer aus dem 20. Jahrhundert. Zwischen ihnen liegen mehr als 2500 Jahre. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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