Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

69 Textkompetenz Literarische Bildung JOHANN NESTROY: „RECHT UND FREIHEIT SIND EIN PAAR BEDEUTUNGSVOLLE WORTE.“ Mit Franz Grillparzer und Ferdinand Raimund, der in seinen „Zauberstücken“ wie dem „Verschwender“ die Gier nach Reichtum anprangert, zählt Johann Nestroy zu den bedeutendsten österreichischen Dramatikern der Zeit. Sein im Sommer 1848 uraufgeführtes Stück „Freiheit in Krähwinkel“ rechnet mit dem von Kanzler Metternich geführten autoritären Regime ab. „Krähwinkel“ ist Wien, auf das der Autor nach der Märzrevolution zurückblickt. Wie Krähwinkel jetzt ist, so war Wien vor der Revolution. Ein Hauptübel Krähwinkels ist die Zensur. Es ist verboten, ausländische Zeitungen zu lesen, und der schlimmste Vorwurf, den man jemandem machen kann, lautet: „Sie denken bei der Nacht über das nach, was Sie beim Tag gelesen haben, das liebt die Krähwinkler Regierung nicht.“ Und Freiheit ist höchst gefährlich: „Freiheit is gar was Schreckliches. Der Herr Bürgermeister sagt immer: der Regent is der Vater, der Untertan is a klein’s Kind, und die Freiheit is a scharf ’s Messer.“ Krähwinkels Absolutismus definiert auch, wer ein Mensch ist: „(D)er Mensch fängt erst beim Baron an.“ Angeführt von einem mutigen Zeitungsredakteur namens Ultra, kann die Krähwinkler Bevölkerung die absolutistisch regierenden Politiker, die „Reaktionäre“ , verjagen. Die Realität war jedoch eine andere. In Österreich gingen die Errungenschaften der Märzrevolution größtenteils verloren; im Laufe des Jahres 1849 zog wieder ein neuer Absolutismus ein. Nestroys Bedeutung liegt auch darin, dass er die Macht der Sprache analysiert. Schon einfache Veränderungen an einem Wort, wie das Setzen vom Singular in den Plural, können einen Begriff entwerten und ins Gegenteil verkehren: ADALBERT STIFTER: DAS „SANFTE GESETZ“ Jeder revolutionären Veränderung abgeneigt ist der bedeutendste österreichische Epiker der Epoche, Adalbert Stifter. Gegen das aufbegehrende, Revolutionen fordernde Menschenbild setzt Stifter einen Entwurf vom Menschen, der vom „sanften Gesetz“ geleitet wird. Stifter formuliert dieses „Gesetz“, nach dem der Mensch leben soll, in der Vorrede zu seiner Erzählungssammlung „Bunte Steine“: Recht und Freiheit sind ein paar bedeutungsvolle Wor- te, aber nur in der einfachen Zahl unendlich groß, drum hat man sie uns auch immer nur in der wertlo- sen vielfachen Zahl gegeben. Das klingt wie ein mathe- matischer Unsinn, und is doch die Wahrheit. […] Was für eine Menge Rechte haben wir g’habt, diese Rechte der Geburt, die Rechte und Vorrechte des Standes, dann das höchste unter allen Rechten, das Bergrecht, dann das niedrigste unter allen Rechten, das Recht, dass man selbst bei erwiesener Zahlungsunfähigkeit und Armut einen einsperren lassen kann. […] Und Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Be- zwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksam- keit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen […] halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der […] umreißt, ändert, zerstört […] halte ich nicht für größer, sondern für kleiner […]. Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wo- trotz all diesen unschätzbaren Rechten, haben wir doch kein Recht g’habt […]. Was haben wir ferner al- les für Freiheiten g’habt. Überall auf ’n Land und in den Städten zu gewissen Zeiten Marktfreiheit. […] Wir haben sogar Gedankenfreiheit g’habt, insofern wir die Gedanken bei uns behalten haben. Es war nämlich für die Gedanken eine Art Hundsverordnung. Man hat s’ haben dürfen, aber am Schnürl führen, wie man s’ loslassen hat, haben s’ einem s’ erschlagen. Mit einem Wort, wir haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur. durch das menschliche Geschlecht geleitet wird. […] Es ist das […] Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sit- te, das Gesetz, das will, dass jeder geachtet, geehrt, unge- fährdet neben demanderen bestehe, dass er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Be- wunderung seiner Mitmenschen erwerbe, dass er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern ist. 2 4 6 8 10 2 4 6 8 12 14 16 18 20 22 10 12 14 16 Die Aussage von Texten erfassen Welche Unterschiede sieht der Autor zwischen ‚Freiheiten‘ und ‚Rechten‘ einerseits und ‚Freiheit‘ und ‚Recht‘ andererseits? 5.10 Texte mit eigenen Werthaltungen und Erfahrungen verknüpfen Welche Werte muss Ihrer Meinung nach der Einzelne vertreten bzw. respektieren, wie muss er sich verhalten, damit „jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe“ ? Welche Voraussetzungen hat ein Staat/eine Gesellschaft dafür zu bieten? 5.11 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verl gs öbv

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