Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

65 Die Klassik 1786−1805 ƒƒ Als „Klassik“, genauer als „Weimarer Klassik“ , bezeichnet man eine Blütezeit der deutschen Literatur, die dominiert wird von Johann Wolfgang von Goethe (1749−1832) und Friedrich Schiller (1759−1805). Man setzt ihren Beginn mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 fest und ihr Ende mit Schillers Tod. Geographisches Zentrum ist die thüringische Stadt Weimar, in der Goethe und Schiller auf Einladung der Weimarer Herzogin Anna Amalia wirken. Auch Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland wirken dort. ƒƒ Der Begriff „classicus“, von dem „klassisch“ abgeleitet ist, stammt aus dem Lateinischen und bezeichnete dort Personen, die zur ersten Steuerklasse gehörten und deshalb einen herausragenden Beitrag für den Staat leisteten. Daraus entwickelte sich die Bedeutung des Adjektivs zur Bezeichnung für vorbildliche, zeitlos gültige Werke aus Literatur und Kunst. ƒƒ Die Kunst der Antike, in der man Harmonie und Maß verwirklicht sieht, wird, insbesondere durch die Anregungen Johann Joachim Winckelmanns (1717−68), zum Vorbild der Klassik. ƒƒ Zentral ist der Gedanke, dass Literatur und Kunst einen geistig und emotional gebildeten Menschen zum „Wahren, Guten und Schönen“, zu Humanität, Toleranz und zum Dienst an der Gemeinschaft führen können. ƒƒ Im Schatten der beiden „Großen“, Goethe und Schiller, standen lange Zeit Dichter wie Friedrich Hölderlin (1770−1843) oder Heinrich von Kleist (1777−1811), deren Bedeutung im 20. Jh. immer mehr gewürdigt wird. Textkompetenz Literarische Bildung 1802 stirbt Susette Gontard, Hölderlin dürfte sie kurz vor ihrem Tod noch besucht haben. „Leichenblass, abgemagert, von hohlem, wildem Auge, langem Haar und Bart“ – so berichtet ein Freund – trifft er wenig später bei seiner Mutter ein. 1806 wird er in die Nervenklinik eingeliefert. Im nächsten Sommer übergibt man ihn als ‚unheilbar‘ dem Tischler Zimmer in Tübingen. Laut Diagnose hat Hölderlin noch drei Jahre zu leben. Doch der 36-Jährige verbringt weitere 36 Jahre in seiner Turmkammer am Neckarufer. Von nun an ist Hölderlin nicht mehr ‚normal‘, eines Lebens unter ‚normalen‘ Menschen nicht mehr fähig. Ob er wirklich „wahnsinnig“ geworden war, oder den „Wahnzustand“ als Schutz vor der Außenwelt „simuliert“ hat, ist in der Wissenschaft umstritten. Kleists radikale Absage an den optimistischen Humanismus Kleist, der als Erzähler und Dramatiker Weltgeltung hat, leidet unter der für ihn zum Wesen des Menschen gehörenden Unfähigkeit, die Welt und die Wahrheit zu erkennen: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie erblickten, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind […]. Genauso ist es mit dem Verstand. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“ Diese Verzweiflung, dass die Welt nicht objektiv erkennbar sei und der Mensch sich deshalb nicht zurechtfinde und schon gar nicht in der von den Klassikern angestrebten Harmonie leben könne, kennzeichnet auch seine Werke, wie die Erzählungen „Das Erdbeben in Chili“, „Michael Kohlhaas“, „Das Bettelweib von Locarno“, oder das Drama „Penthesilea“. beziehung zu Susette Gontard hat begonnen. Die Beziehung wird offenbar, Hölderlin wird von Gontard entlassen. Unter dem Eindruck des Scheiterns seiner Beziehung zu Susette Gontard entsteht im selben Jahr 1798 ein Gedicht, das in keiner Lyrikanthologie fehlt. Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. 2 4 6 8 10 12 14 Texte erfassen und ihre ästhetische Qualität erkennen Das Gedicht ist antithetisch aufgebaut. Die beiden „Hälften“ des Jahres stehen einander als „Hälften des Lebens“ gegenüber. Mit welcher Strophe verbinden Sie folgende Begriffe: Harmonie und Verbindendes, Leben und Bewegung, Trennendes, Bewegungsloses, Starres? Beschreiben Sie die in den beiden Strophen vorgestellten Landschaften und Jahreszeiten! Die sprachliche Kunst des Gedichts bemerken Sie auch, wenn Sie es geringfügig ändern. Ersetzen Sie zum Beispiel in der ersten Verszeile ‚Birnen‘ durch ‚Äpfel‘, in der zweiten ‚wilden‘ durch ‚roten‘. Welche negativen klanglichen und inhaltlichen Veränderungen ergeben sich? a b c 5.6 Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=