Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

51 SCHRITT 2: IMPULSTEXT ANALYSIEREN Textkompetenz Alexandra Borchardt: Billig ist gut Ja, der Besserverdiener hat es leicht: Portemonnaie und Bankkonto erlauben es ihm, ethisch anspruchsvoll zu leben. Er kann seine Lebensmittel im Bioladen kaufen, seine Möbel beim örtlichen Tischler bauen lassen und Klamotten beim Spezialversand ordern. Auch der Ver- zicht ist für den Gutverdiener nicht allzu schwer. Nur noch einmal die Woche Fleisch? Ferien auf dem Selbst- versorger-Ökobauernhof? Mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren? Kein Problem. Das Leben könnte zwar bequemer sein, aber was sind ein paar Einschränkungen verglichen mit dem guten Gefühl, mit Konsum und Lebensweise weder irgendwelche Ausbeuter von Verkäuferinnen, fernöstli- chen Näherinnen oder Pressholz-Verleimern zu finan- zieren. „Weniger ist mehr“, sagen all die Leute, die das Wort „Nachhaltigkeit“ so mühelos im Wortschatz führen wie andere „Sonderangebot“. […] Sie sind ein bisschen stolz auf sich, und selbstverständlich könnten aus ihrer Sicht alle Konsumenten wenigstens ein bisschen so handeln wie sie. Denn es kann ja nichts werden aus der besseren Welt, wenn alle unnützes Zeug beimDiscounter einkau- fen, für 500 Euro in die Alles-Inklusive-Hotelwoche flie- gen und sich mit dem zwölf Jahre alten Auto durch den Stau zur Firma quälen, was der Stadtluft, wenn nicht gar demWeltklima, den Rest geben wird. Zur Gruppe der Gutverdiener-Gutmenschen gehören vor allem gebildete Bürger, Akademiker. Jene, die be- sonders laut klagen über die Klassengesellschaft, Unge- rechtigkeit, die Schere zwischen Arm und Reich. Dabei waren es gerade die heute zuweilen so verachteten Dis- count-Pioniere, die auf ihre Weise dafür gesorgt haben, Klassengrenzen verschwimmen zu lassen. Denn wenn heute billig für böse steht, stand es früher einmal für et- was ganz anderes: für demokratisch. Auch einfache Leute sollten sich leisten können, was sonst den oberen Schichten vorbehalten war: Hirschbra- ten und Champagner zu Weihnachten, bedient werden im Hotel, sich räkeln auf Sofas, die zumindest so aus- sehen, als könnten sie im Großbürger-Wohnzimmer ei- ner „Tatort“-Familie eine Nebenrolle spielen. So zumin- dest sahen es die meisten Gründer von Discountlebens- mittel- oder Discountmöbelketten. Freilich, viele dieser Figuren waren und sind rein menschlich betrachtet be- stimmt keine Sympathieträger. Der Kampf für Arbeit- nehmerrechte und gegen giftige Dämpfe in Fabriken gehörte nie zu ihrem Kerngeschäft. Stattdessen verstan- den sie es, Lieferanten zu knebeln und Mitarbeitern nur das Nötigste zukommen zu lassen. Und eine der dem Anschein nach demokratischen Konsum-Ideen – das erschwingliche Privatauto für jedermann – stammt aus der Nazizeit. Trotzdem helfen Billigwaren dabei, Klassenunter- schiede – zumindest ein wenig – einzuebnen. Also auch ärmeren Familien das Gefühl zu geben, sie könnten die Kopie eines Lebensstils hinbekommen, wie sie ihn von wohlhabenden Nachbarn kennen. Tragen nicht Kinder aller Schichten zuweilen H&M-Klamotten? Und wur- den nicht auch schon Manager gesichtet, wie sie ihren Champagner-Vorrat am Diskonter-Regal aufstockten? Ganz abgesehen davon, dass die großen Billigfirmen auch in Europa vielen Menschen Arbeit geben. Natür- lich zahlt immer jemand den Preis für den Niedrigpreis. Was für die Konsumenten umso angenehmer, je weiter weg die Opfer dieser Dumpingpolitik leben. […] Indo- nesiern oder Pakistanern hilft es [aber] rein gar nichts, ihnen die Aufträge westlicher Konzerne zu entziehen. Beispiel Made in China: Sicher, etlichen Arbeitern dort geht es schlecht. Aber dass das Land zur Werkbank der Welt wurde, hat dort die Mittelschicht wachsen lassen, die – so kann man wenigstens hoffen – ihr Eigentum und ihre Interessen möglicherweise auch einmal von einem demokratischen Rechtsstaat geschützt sehen möchte. Schon beginnen chinesische Arbeiter, mehr Lohn zu erstreiten; zum Teil so viel, dass Konzerne ihre Produktionen in noch billigere Länder verlagern. Ist es nicht westliche Überheblichkeit, den Arbeitern in die- sen Ländern die Fähigkeit abzusprechen, für ihre eige- nen Rechte zu kämpfen, wie dies dereinst den europäi- schen Arbeiterbewegungen gelang? Dies alles spricht nicht generell gegen dosierte Käufer- streiks. Die Bosse in den Zentralen der Konzerne sollen ruhig wissen, dass der Glanz daheim schnell weg ist, wenn dafür in Übersee Tränen fließen. Die öffentlich- keitswirksame Serie der Suizide beim taiwanesischen Elektronik-Fertiger Foxconn, der für so ziemlich die Mehrzahl der IT-Konzerne produziert, war ein Beispiel dafür, wie solch ein unangenehmer Druck entstehen kann. Hier hat der Gutverdiener-Gutmensch tatsäch- lich eine Aufgabe, denn gerade die Produzenten teurer Lifestyle-Produkte sind auf seine Loyalität angewiesen. Wer sich´s leisten kann, sollte sein Geld also tatsächlich bewusst ausgeben. Aber er sollte sich verkneifen, Billig- Konsumenten zu verurteilen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 Folgende Aspekte sollten Sie bei der Untersuchung von Sachtexten berücksichtigen: ƒƒ Kernaussage(n) des Textes: Was wird im Text behauptet? Was folgt daraus? ƒƒ Intention (Absicht) des Autors bzw. der Autorin: Welches Ziel wird verfolgt? Warum? ƒƒ Argumentation: Welche Argumente werden vorgebracht? Ist die Argumentation schlüssig? ƒƒ Sprache des Textes: Welche Auffälligkeiten gibt es? Passt die Sprache zur Textsorte? Beachten Sie: Die Auseinandersetzung mit dem Text ist nach diesem Schritt noch nicht unbedingt abgeschlossen. Vor allem im Zusammenhang mit dem folgenden Schritt 3 („Gedankensammlung und Thesenbildung“) sollten Sie Ihre Überlegungen immer wieder am Text prüfen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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