Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

Sprachraum 3  Rhetorik 48 Kompetenztest 3 Hauptkompetenz und Teilkompetenz Mündliche Kompetenz: Mittel der Rhetorik nutzen, frei vortragen Weitere geforderte Kompetenzen Textkompetenz, Sprachbewusstsein Methodisch-didaktische Hinweise Einzelarbeit Hilfsmittel Wörterbuch Zeitbedarf 20 Minuten Victor Klemperer: Zehn Jahre Faschismus Der folgende Auszug stammt aus Klemperers Buch „LTI“ (= Lingua Tertii Imperii = „Sprache des dritten Reichs“), einer Sammlung von Betrachtungen über den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten. Einladung des italienischen Konsulats in Dresden für Sonntagvormittag, den 23. Oktober 1932, zur Vorführung des Filmes – film sonoro ausdrücklich, denn noch gibt es auch den stummen – „Zehn Jah- re Faschismus“. […] Zum ersten Mal höre und sehe ich den Duce reden. Der Film ist eine große Kunstleistung. Mussolini spricht vom Balkon des Schlosses in Neapel herun- ter auf die Menge ein; Aufnahmen der Masse und Großaufnahmen des Redners, Worte Mussolinis und Antworttöne der Angesprochenen wechseln miteinander. Man sieht, wie sich der Duce zu jedem Satz förmlich aufpumpt, wie er immer wieder, da- zwischen absinkend, den Gesichts- und Körperein- druck höchster Energie und Anspannung herstellt, man hört den leidenschaftlich predigenden, ritua- len, kirchlichen Tonfall, in dem er immer nur kurze Sätze herausschleudert, wie Bruchstücke einer Liturgie, auf die jeder ohne gedankliche Anstren- gung gefühlsmäßig reagiert, auch wenn er nicht, ja gerade wenn er nicht den Sinn versteht. Riesenhaft der Mund. Gelegentlich typisch italienische Finger- bewegungen. Und Geheul aus der Masse, Zwi- schenrufe der Begeisterung oder, bei der Nennung eines Gegners, gellende Pfiffe. Dazu immer wieder die Haltung des Faschistengrußes, der vorgestreck- te Arm. All das haben wir seitdem so abertausendmal gese- hen und gehört, mit so geringen Variationen nur immer wiederholt, als Aufnahme vom Nürnberger Parteitag oder aus dem Berliner Lustgarten oder vor der Münchener Feldherrenhalle usw. usw., dass uns der Mussolinifilm eine sehr alltägliche und nicht im Geringsten außergewöhnliche Leistung zu sein scheint. Aber so wie der Titel Führer nur eine Verdeutschung von Duce ist und das Braunhemd nur eine Variation des italienischen Schwarzhemds und der Deutsche Gruß nur eine Nachahmung des Faschistengrußes, so ist die gesamte Filmaufnahme solcher Szenen als Propagandamittel, so ist die Sze- ne selber, die Führerrede vor dem versammelten Volk, in Deutschland dem italienischen Vorbild nachgeformt worden. In beiden Fällen handelt es sich darum, den führenden Mann in unmittelbaren Kontakt mit dem Volk selber, dem ganzen Volk und nicht nur seinen Vertretern, zu bringen. […] Indem sie sich an alle wandte und nicht mehr an ausgewählte Volkvertreter, musste sie sich auch al- len verständlich machen und somit volkstümlicher werden. Volkstümlich ist das Konkrete; je sinnli- cher eine Rede ist, je weniger sie sich an den Intel- lekt wendet, umso volkstümlicher ist sie. Von der Volkstümlichkeit zur Demagogie oder Volksver- führung überschreitet sie die Grenze, sobald sie von der Entlastung des Intellekts zu seiner gewoll- ten Ausschaltung und Betäubung übergeht. In gewissem Sinn kann man den festlich ge- schmückten Markt oder die mit Bannern und Spruchbändern hergerichtete Halle oder Arena, in der zur Menge gesprochen wird, als einen Bestand- teil der Rede selber, als ihren Körper ansehen; die Rede ist in einem solchen Rahmen inkrustiert und inszeniert, sie ist ein Gesamtkunstwerk, das sich gleichzeitig an Ohr und Augen wendet, und dop- pelt an das Ohr, denn das Brausen der Menge, ihr Applaus, ihr Ablehnen wirkt auf den Einzelhörer gleich stark wie die Rede an sich. Wiederum ist auch die Tonart der Rede selber fraglos beeinflusst, fraglos sinnlicher gefärbt durch solche Inszenie- rung. Der Tonfilm überträgt das Gesamtkunstwerk in seiner Ganzheit; das Radio ersetzt das dem Auge gebotene Schauspiel durch Ansage, die dem anti- ken Botenbericht entspricht, gibt aber die aufrei- zende auditive Doppelwirkung, das spontane Re- sponsorium der Masse, getreu wieder. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 KT 1 Lesen Sie den folgenden Text und nennen Sie den konkreten Anlass, aus dem heraus dieser Text verfasst worden ist. Sprachreflexion Textkompetenz Mündliche Kompetenz Anlass: Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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