Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

41 Roman Herzog: Der Wert der Rhetorik (Auszug 2) Es ist heute nicht mehr möglich, über politische Bered- samkeit zu sprechen, ohne zugleich darüber zu reflek- tieren, dass wir in einer Mediengesellschaft leben. Für die politische Rede bedeutet das zunächst, dass nichts von ihr beim Volk ankommt, wenn sie nicht durch die Medien – und hier vor allem durch das Fernsehen – vermittelt wird. Das ist zwar inzwischen selbstver- ständlich, hat aber die politische Beredsamkeit auf be- deutsame Weise verändert. Das erste Gesetz des Fern- sehens heißt: kurz und schnell. So wird zum Beispiel in der Berichterstattung aus einer halbstündigen Rede ein Ausschnitt von einer halben Minute gezeigt. Während seriöser Journalismus versucht, einen Satz zu finden, der in etwa die Hauptthese der Rede zusammenfasst, wird das Infotainment geneigt sein, möglichst die Stel- le zu finden, an der der Redner den politischen Gegner besonders polemisch abfertigt oder auf andere Weise für Aufregung sorgt. So wird in der Öffentlichkeit der Eindruck immer mehr verstärkt, dass der sogenannte „Schlagabtausch“ der einzig verbliebene Sinn der poli- tischen Debatte sei. Die Politiker selbst sind daran si- cher nicht schuldlos, aber unter den Bedingungen des Fernsehens und seiner Gesetze ist es selbst dem seriö- ner der Ursprungsorte der Rhetorik überhaupt ist. Es liegt einerseits daran, dass es zwischen jedem Gesetz und jeder diesem Gesetz widersprechenden Tat einen Spielraum von Unschärfe gibt, und andererseits daran, dass auch die Tat selbst oft auf verschiedene Weise er- klärt und gedeutet werden kann. Keine menschliche Tat ist eindeutig – und erst recht kein Gesetz. Deswegen ist jede Anklage der Beginn von rhetorischer Aktion. So verhält es sich schon beim ersten Untersuchungsverfah- ren, von dem – in der Bibel – berichtet wird: Gott er- wischt Adam in flagranti, dieser kann die Tat selbst auch gar nicht leugnen. So behauptet er wenigstens den straf- mildernden Tatbestand der Anstiftung. Eva greift zum selben Mittel und deutet auf die Schlange. Das schlich- teste, aber bis heute in ähnlichen Situationen beliebteste rhetorische Mittel, nämlich der ausgestreckte Zeigefin- ger, der von einem selbst weg auf den anderen deutet, wird hier in die Geschichte eingeführt. […] Die offene Gesellschaft, für die ich immer wieder plädiere, ist auf Transparenz angewiesen, vor allem auf die Transparenz der unterschiedlichen Wissensberei- sesten Politiker nicht möglich, Kosten und Nutzen ei- ner Steuerreform zu erläutern, wenn dazu einminütige „sound-bites“ ausreichen müssen. Das geht einfach nicht. In der Kürze liegt aber nicht immer die Würze. In der Eile geht verloren, was für die Beredsamkeit in der De- mokratie das wichtigste ist: das ausführliche, verständ- liche Argument und die Transparenz einer politischen Position. Die Verführung zur mediengemäßen Rheto- rik lässt nicht nur die Sprache arm und platt werden. Sie verändert die gesellschaftliche Kommunikation insgesamt, indem sie zum Kurzmonolog verleitet und so zur Verhärtung von „einsilbigen“ Positionen. Es wird der verheerende Eindruck erweckt, politische Projekte ließen sich in ein bis zwei Sätzen zusammen- fassen und begründen. Da die Menschen aber sehr ge- nau wissen oder zumindest spüren, wie unübersicht- lich und komplex die Fragen der Gegenwart sind, wird solche politische Rhetorik immer weniger glaubwür- dig. Damit sind wir aber endgültig beim springenden Punkt: Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Kapital des Redners überhaupt. Das Thema wäre sicher eine eige- ne Vorlesung wert. Hier nur so viel: Glaubwürdigkeit entsteht durch Wahrhaftigkeit, durch Übereinstim- mung von Wort und Tat und durch Sachkompetenz. che. Es ist nicht rückgängig zu machen, dass sich unser Wissen in immer mehr Sachbereiche ausdifferenziert. Es ist aber für eine offene und demokratische Gesell- schaft höchst gefährlich, wenn sich die unterschiedli- chen Disziplinen so sehr in ihren eigenen Sprachspie- len verstricken, dass sie schon deshalb nicht mehr mit- einander diskutieren können, weil sie sich nicht mehr verstehen. In den komplexen Entscheidungen, die wir immer wieder in unserem Gemeinwesen treffen müs- sen, ist es aber nicht möglich, auf Zusammenarbeit der Disziplinen zu verzichten. Viele Blockaden in unseren augenblicklichen Debatten sind im ungenügenden ge- genseitigen Verstehen begründet. Aber ich will noch einen Schritt weitergehen. In einer offenen Gesellschaft müssen sich nicht nur die jeweili- gen Experten verstehen. Es kommt vielmehr entschei- dend darauf an, die Probleme so darzustellen, dass auch eine interessierte Öffentlichkeit darüber sachge- recht mitreden und entscheiden kann. Der Kampf ge- gen Expertokratie beginnt mit dem Gewinn der rheto- rischen Kompetenz, mit sachgerechter Beredsamkeit. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 Lesen Sie nun den zweiten Auszug aus der Rede „Der Wert der Rhetorik“ und bearbeiten Sie die folgenden Aufgaben. Stellen Sie dar, wie die Mediengesellschaft laut Herzog die politische Rhetorik verändert hat. Diskutieren Sie: Ist die Praxis der politischen Rhetorik in England oder den USA mit der in Österreich vergleichbar? Beziehen Sie in Ihre Diskussion Reden mit ein, die Sie aus dem Englischunterricht kennen. Suchen Sie nach eventuellen Unterschieden und deren Ursachen. Fassen Sie zusammen, wie sich Roman Herzog eine gelungene politische Rhetorik vorstellt. Besprechen Sie anschließend, welche dieser Aspekte sich auf Ihr eigenes (öffentliches) Reden übertragen lassen. a b c 3.3 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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