Sprachräume 3, Deutsch für die AHS-Oberstufe, Schulbuch

zwISCHEnrAuM 1  Maturatextsorten im Überblick 30 nur hier ist das Innere eines anderen für uns erfahrbar, nur hier können wir uns selbst als Fremde begegnen, nur hier sind Anarchie und Subjektivität wirklich zu Hause. Was wüssten wir vom Judentum, was vomChris- tentum oder den anderen Religionen ohne Literatur? Und wo kann man noch immer unendlich viel mehr über die Liebe erfahren als im elenden Nachtprogramm von RTL? Gute Bücher erklären und öffnen uns die Welt, wie nie- mand sonst es vermag. Sie schärfen unseren Möglich- keitssinn, verfeinern unser Gehör, bilden unseren Ge- schmack. Sie zerreißen den Panzer aus Konvention und Banalität, der uns umgibt. Gut geschrieben ist immer auch gut gedacht: Niemand, der heute Tolstoj gelesen hat, wird sich morgen mit den Phrasen eines sprachde- bilen Medienkapitalismus abspeisen lassen. Von der „Lesbarkeit der Welt“ hat der Philosoph Hans Blumen- berg geschwärmt. Lesend können wir die Welt erken- nen. Die andere Welt. Die, in der nicht alle Zeiger auf Geld gestellt sind. Und das ist – obwohl die meisten gu- ten Bücher schlecht ausgehen – ein großes Glück. Nimm und lies! 1 Die Stiftung Lesen versteht sich in Deutschland seit Jahrzehnten als Anwältin für Lesen und Leseförderung. 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 Text 2 Vor einer Woche habe ich an dieser Stelle über Stefan Zweig geschrieben und am Ende angekündigt, dem- nächst noch einmal über ihn zu schreiben und dann vor allem auf seine erfolgreichen Novellen einzugehen. Sie sind es, die offensichtlich unsere Leser ammeisten inter- essieren. Zunächst: Ein ungewöhnlich anschauliches und nach wie vor sehr lesenswertes Buch ist Stefan Zweigs Auto- biographie „Die Welt von gestern“, die noch während des Krieges entstanden, aber erst nach Zweigs Tod er- schienen ist. Lesenswert ist auch Zweigs letztes, nicht von ihm selber abgeschlossenes Buch – die Monographie über Balzac. Die Kenner der französischen Literatur nehmen es nicht ernst, was leider seine Gründe hat. Es hat den Fehler nicht weniger Bücher Stefan Zweigs: Es ist zwar sehr un- terhaltsam, doch nicht ganz seriös. Der Held der meisten Novellen Zweigs ist ein Mensch, dessen Psyche ganz normal zu sein scheint. Doch ir- gendein Ereignis – häufig ist es eine unerwartete Begeg- nung – macht einen bisher verborgenen Komplex dieses Menschen sichtbar, einen Komplex, dessen Entladung die seelische Deformation dieses Helden zumVorschein kommen lässt. In vielen Novellen Zweigs handelt es sich eindeutig um einen erotischen Komplex – so im „Amokläufer“, der Geschichte eines Arztes, der nach einer Unterschlagung nach Indochina flieht, wo er in den Bann einer hochmü- tigen Frau gerät. Diesen Arzt lässt Zweig sagen: „Rätsel- hafte psychologische Dinge haben über mich eine gera- dezu beunruhigende Macht, es reizt mich bis ins Blut, Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Men- schen können mich durch ihre bloße Gegenwart zu ei- ner Leidenschaft des Erkennenwollens entzünden, die nicht viel geringer ist als jene des Besitzenwollens bei einer Frau.“ Das sagt eine Figur, gewiss, aber es kann keinen Zweifel geben, dass wir es mit einer Selbstcharak- terisierung Zweigs zu tun haben. Text 3 Pro Tierversuche: Lieber sterben? Es geht nicht darum, zu quälen, sondern das Überleben der Spezies Menschen auf lange Sicht zu verbessern. Die Natur ist unbarmherzig. Es gibt unzählige Krank- heiten, die den Menschen gefährlich werden. Es ist le- In der Novelle „Vierundzwanzig Stunden aus dem Le- ben einer Frau“ wird der erotische Wahn am Beispiel einer vornehmen Dame gezeigt, die auch eine vorbildli- che Mutter ist. Im „Brief einer Unbekannten“ ist es die Geschichte einer Frau, die seit ihrer frühesten Jugend einen Nachbar, einen bekannten Schriftsteller, liebt. Diese Liebe führt zu einem pathologischen Zustand und schließlich zum Selbstmord. Neben den erotischen Motiven spielt in Zweigs Werk der Minderwertigkeitskomplex eine große Rolle – etwa in solchen Novellen wie „Leporella“ und „Untergang ei- nes Herzens“. Besonderes Interesse Zweigs gilt einseiti- gen Menschen, oft von intensiver Begabung („Die un- sichtbare Sammlung“, „Schachnovelle“). Immer bieten Zweigs Novellen vor allem ein Porträt der zentralen Fi- gur. Die psychologische Analyse ist Ziel und Zweck je- der dieser Erzählungen. Viele sind freilich am Ende zu- mindest etwas enttäuschend. Nach der Lektüre sogar der glänzend geschriebenen „Schachnovelle“ drängt sich die einfache Frage auf: „Na und?“ Die unzweifelhaft spannende Novelle gibt keinen Anlass zu tieferen Über- legungen. Anders konnte es nicht sein, denn Zweig war ein Leben lang unter dem Einfluss einer riskanten Illu- sion: Die Porträts insgesamt ergeben, meinte er, ein Bild der Welt, eine treffende Abbreviatur. Das ist ein Miss- verständnis, das den Novellen Zweigs zugrunde liegt. Denn es gibt keine Erlösung durch die Psychologie. In vielen Arbeiten Zweigs ist seine glänzende Beherr- schung des literarischen Handwerks unverkennbar. Über seine Sprache kann man viel Gutes sagen, doch lässt sich nicht verschweigen, dass sein Deutsch etwas redselig ist und gelegentlich beinahe geschwätzig. Allzu deutlich ist die Bemühung des Autors um eine mög- lichst gefällige Prosa. In seinen frühen Erzählungen störe ihn, bemerkte ein- mal Stefan Zweig, der Duft des parfümierten Papiers. Mit der Zeit wurde dieser Duft diskreter und subtiler, er lässt an edelstes Parfüm denken, aber doch immer an Parfüm. gitim, sich gegen diese Bedrohungen zu wehren. Ge- fragt ist dann Forschergeist. Die Ursache von Erkran- kungen entdecken, Gegenmittel finden, testen, ob diese Wirkstoffe tatsächlich helfen und keinen Scha- den anrichten: Vieles davon wird in Tierversuchen ge- 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 2 4 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 6 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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